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»Normaler« Terror?

Zu den Thesen von Giorgio Agamben. Von Jürgen Link. Erschienen in DISS-Journal 11 (2003) (= Gemeinsames Sonderheft des DISS-Journals und der kultuRRevolution zum Irak-Krieg).

In seinem Essay »Der Gewahrsam. Ausnahmezustand als Weltordnung « (FAZ 19.4.2003) hat Giorgio Agamben der politischen Ausrichtung der Supermacht nach dem 11.9.2001 und damit dem seitherigen Weltzustand die wohl gleichermaßen radikalste, intelligenteste wie alarmierendste Diagnose gestellt. Diese Diagnose ergibt sich aus einer Weiterführung und Aktualisierung der Analytik politischer Tiefenstrukturen entsprechend dem Verhältnis zwischen Ausnahme- und Normalzustand, wie es in verschiedenen Facetten von Carl Schmitt, Walter Benjamin und Hannah Arendt reflektiert wurde.

Agambens Resultat ist voller Shock and Awe: Wenn »Guantánamo« tatsächlich nicht einmalige und möglichst umgehend zu beendende Ausnahme, sondern nur symbolischer Beginn einer global dominierenden Tendenz sein sollte, dann wäre die Unterstellung von Analogien zur Horrorzeit 1914-1945 mit ihrer millionenfachen Niederbrechung menschlicher Individuen in »nacktes Leben« ohne jeden normativ garantierten Minimalstatus tatsächlich nicht länger zu tabuieren: »Mittels einer strategischen Verknüpfung der beiden Paradigmen des Ausnahmezustands und des Bürgerkrieges definiert sich die neue amerikanische Weltordnung als eine Lage, in der der Notstand nicht mehr von der Norm unterschieden werden kann (…).« (a.a.O.)

Gerade wegen ihrer im allerbesten Sinne »alteuropäischen« intelligenten Radikalität verdient Agambens Analyse, sehr ernst ge nommen und lange und ausführlich diskutiert zu werden. Dazu im folgenden einige eher ergänzende, teils auch präzisierende Überlegungen am Leitfaden des Begriffs der »Normalität«. Agamben spricht an mehreren Stellen in ähnlichen Formulierungen von der »Verwandlung des Ausnahmezustands in ein normales Regierungshandeln «. Er folgt damit einer weit verbreiteten Floskel, die schweren Normbrüchen (bis hin zu Auschwitz) eine »erschreckende Normalität« zuschreibt. Will man als Analytiker nicht vor der Banalisierung der Kategorie des »Normalen« zu einer allround tauglichen apologetischen Sprechblase des medio-politischen Diskurses kapitulieren, so gilt es zunächst daran zu erinnern, daß sich die Kategorien der Normativität und der Normalität in den okzidentalen Kulturen (und gerade auch in den USA) seit gut 200 Jahren in signifikanter Weise auseinander entwickelt haben. Während die Normativität (mit der ethischen und juristischen Norm als Kern) jahrtausendealte Traditionen weiterentwickelt, handelt es sich bei der Normalität in einem prägnanten Sinne um eine relativ junge Emergenz. Sie entstand zusammen mit der Etablierung »verdateter« Gesellschaften, d.h. von Gesellschaften, die sich selbst mehr und mehr und flächendeckend statistisch transparent machen. Allererst auf der Basis solcher statistischer Selbst-Transparenz können solche Gesellschaften »Normalitäten« in einem prägnanten Sinne definieren, um sich dann an ihnen zu orientieren und zu regulieren. Sehr grob gesagt, sind »Normalitäten« also immer massenbezogen und durch Verteilungen gekennzeichnet, in denen eine mittlere Tendenz (Durchschnitt) entschieden dominiert, während zwei symmetrisch ›obere‹ oder ›untere‹, ›rechte‹ oder ›linke‹ Extreme statistisch dünn besetzt sind und gegen Null auslaufen (Idealtyp Gaußsche Normalverteilung). Ein aktuelles Beispiel: Dem funktionierenden Wohlfahrtsstaat wäre insoweit »Normalität« zuzuschreiben, als der Lebensstandard in ihm symbolisch »normal« verteilt sein sollte: also mit dickem Bauch in der Mitte und abnehmend wenigen Reichen, aber auch abnehmend wenigen Armen ›unten‹.

Die so verstandene Normalität besitzt in modernen westlichen Kulturen demnach eine relative Autonomie gegenüber der Normativität. Dafür ist die Kategorie der »Akzeptanz« symptomatisch: Nichts schafft so sehr Akzeptanz wie Normalität (weil die große Mehrheit sich dabei im sicheren mittleren Bauch der Verteilung wiederfindet). Deshalb kann Normalität nicht normativ angeordnet, beschlossen oder gar unter Strafandrohung kommandiert werden. Die entsprechende »Normalität« wäre stets bloße Fassaden- Normalität so wie die der Prohibition in den USA der 1920er Jahre. Deshalb konstituiert sich Normalität stets ›spontan‹ auf der Ebene der Zivilgesellschaft und nicht auf der normativen Ebene des Staates. Demnach hängt Normalität von der massenhaften gesellschaftlichen »Wahrnehmung« ab, wie sie tendenziell durch große statistische Trends auf Basis der Verdatung grundiert wird. Ein wiederum aktuelles Beispiel wäre die »Agenda 2010«, die die mediopolitische Klasse als »normal« verkaufen möchte, während große Teile der Gesellschaft sie als denormalisierend (Normalität zerstörend) »wahrnehmen«. Damit ist nicht bestritten, daß Staaten und Institutionen (insbesondere Massenmedien) nicht erfolgreiche »Manipulationen« der massenhaften Wahrnehmung von Normalität erzielen können – worauf es ankommt, ist die relative kategorielle Autonomie der Normalität gegenüber der Normativität.

Was bedeutet das für Agambens Thesen? Kann der permanente Ausnahmezustand, der ja sogar einen Bruch mit der Normativität darstellt, wie Agamben systematisch und historisch ausführt, von der Masse der Zivilgesellschaft ›spontan‹ als »normal« wahrgenommen werden? Muß die Normalität nicht im Gegenteil als eine Ressource aufgefaßt werden, die sich ›spontan‹ gegen jeden Ausnahmezustand, aber besonders gegen seine Permanenz, sträuben wird? Hat nicht der durch den »Wahnsinnsakt« von 1914 ausgelöste Schub permanenter Ausnahmezustände die Normalität auf Jahrzehnte zerstört?

Dieser Vorschlag zur Differenzierung nimmt Agambens Diagnose nichts von ihrer aufrüttelnden Sorge, im Gegenteil: Die differenzierte Frage müßte ja nun lauten, ob die Erklärung eines normativ partiell blinden und einem Geheim(dienst)regime unterworfenen permanenten »Kriegs gegen den Terror« sich als ein zu 1914 analoges Ereignis epochaler Denormalisierung erweisen könnte? Ob »Guantánamo« späteren Beobachtern analog erscheinen wird zum Regime der Lager für die »displaced persons« des Ersten Weltkriegs, in denen Hannah Arendt scharfsinnig die »Ursprünge totaler Herrschaft « entdeckt hat? Diese alarmierenden Fragen hängen zu einem nicht unwichtigen Teil von der Interaktion zwischen dem von Agamben charakterisierten normativen Ausnahmeregime auf der einen Seite und der Entwicklung der Normalitäten auf der anderen ab. Dazu einige einschlägige Faktoren:

Zunächst ist daran zu erinnern, daß Normalitäten im oben beschriebenen Sinne (prekär und annähernd genug) bloß in den ersten zwei »Welten« einigermaßen funktionieren. Man muß die »Welten« demnach als »Normalitätsklassen« auffassen und feststellen, daß die dritte bis fünfte (»less developed countries) »Welt« lediglich über Fassaden-Normalitäten verfügt, die ihr von der Ersten Welt kontrafaktisch »zugeschrieben« werden. Nach den statistischen Daten (soweit überhaupt verläßliche vorhanden) herrschen in den »armen und ärmsten Ländern« keinerlei normale Zustände. Daß dort gleichzeitig auch normativ prekäre bis entsetzliche Zustände herrschen, hängt nach den hier erläuterten Prämissen nicht zuletzt damit zusammen, daß zivilgesellschaftliche »Normalitäten« als Schutzräume und ›Puffer‹ fehlen. Insofern ist es tatsächlich von schauriger Symbolik, daß die Bush-Administration eine gepachtete Enklave in einem Land der Vierten oder Fünften Welt zur »Behandlung « der auf ihr nacktes Leben reduzierten »detainees« gewählt hat (und daß sie andere Verdächtige in Ländern der Dritten bis Fünften Welt wie Marokko oder Ägypten »verhören« läßt). Nehmen wir diese Zustände jedoch als »normal« wahr? Man möchte doch hoffen nein. Von einer halbwegs funktionierenden Normalität aus gesehen erscheint das Foltern des nackten Lebens (oder auch seine Bombardierung) keineswegs als »normal«, sondern gerade umgekehrt als der Horror des Anderen jeder Normalität. Deshalb werden die Enklaven des Ausnahmezustands ja gegenüber nicht nur einer normalen, sondern nach Möglichkeit gegenüber jeder öffentlichen Wahrnehmung abgeschottet.

Hier liegt das wahre Problem: Wie weit kann ein Regime der »gespaltenen Normalität« gehen, ohne uns »Normale« entweder in zynische und feige Wegschauer und Drückeberger gegenüber den Enklaven des gesetzlosen Ausnahmenzustands zu verwandeln, oder aber ohne diese Enklaven weiter und weiter auszudehnen bis in unsere eigene Normalität hinein und dann sicher noch weiter bis in die irreversible Denormalisierung wie seinerzeit nach 1914?

Dokumentation

Der Gewahrsam. Ausnahmezustand als Weltordnung (FAZ 19.4.2003)

Im Jahr 1940 schreibt Walter Benjamin in einer seiner Thesen über den Begriff der Geschichte, daß „der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist“. Diese Diagnose war sicherlich in einem technischen Sinne zutreffend. Nicht nur wurde der Ausnahmezustand, den Hitler am 28. Februar 1933 in Deutschland ausgerufen hatte, nie aufgehoben, sondern im Notstand des Krieges griffen nahezu alle europäischen Staaten zu Ausnahmemaßnahmen, indem sie die Vollmacht von Militärgerichten auf Zivilpersonen übertrugen und die bürgerlichen Freiheiten erheblich einschränkten. Die Feststellung Benjamins hat allerdings noch eine umfassendere Bedeutung, die ihr den Charakter einer Prophezeiung verleiht, die uns betrifft. Man kann nämlich sagen, daß die willentliche Schaffung eines permanenten Ausnahmezustandes (auch wenn er nicht immer im technischen Sinne erklärt wird) inzwischen eine der geläufigen Praktiken der heutigen Staaten, einschließlich der sogenannten demokratischen, geworden ist. Angesichts der unaufhaltsamen Entwicklung dessen, was man mit einem wirkungsvollen Ausdruck als „Weltbürgerkrieg“ bezeichnet hat, stellt sich der Ausnahmezustand immer mehr als das vorherrschende Paradigma des Regierens in der zeitgenössischen Politik dar. Diese Überführung einer provisorischen und ausnahmsweisen Maßnahme in eine normale Regierungstechnik ist unter unseren Augen dabei, den Sinn und das Wesen der demokratischen Verfassungen radikal zu verändern.

Man betrachte die aktuelle Politik der Vereinigten Staaten. Diese zeigt sich als eine offene Übertretung der Regeln des nationalen und internationalen Rechts. Um die Bedeutung und die Wirkung dieses Vorgangs zu begreifen, darf man nicht vergessen, daß diese Überschreitung des Rechts einem Muster folgt, das die gesamte Politik der Vereinigten Staaten nach dem 11. September 2001 leitet. In der amerikanischen Verfassung hat der Ausnahmezustand seinen Ort in der dialektischen Auseinandersetzung zwischen den Befugnissen des Präsidenten und der des Kongresses bei einem inneren Notstand oder einem Krieg. Präsident Bush, der durch die Wahl nur eine zweifelhafte Legitimität erhalten hatte und nach dem 11. September ständig von sich selbst als dem „commander in chief of the army“ spricht, ist plötzlich als Inhaber der höchsten Autorität im Ausnahmezustand aufgetreten. In dieser Eigenschaft hat er am 13. November 2001 einen „military order“ erlassen, der die „indefinite detention“ von nichtamerikanischen Bürgern, die des Terrorismus verdächtig sind, und die Verhandlungen von „military commissions“ (nicht zu verwechseln mit Militärgerichten, wie sie nach dem Kriegsrecht vorgesehen sind) gegen sie autorisierte.

Das Neue an dieser „militärischen Anordnung“ besteht darin, daß sie den Rechtsstatus eines Individuums sowohl mit Rücksicht auf das internationale Recht wie auf die amerikanischen Gesetze radikal suspendiert und ein juristisch nicht benennbares und klassifizierbares Wesen schafft. Die in Afghanistan gefangengenommenen Taliban, aber auch beliebige Nichtbürger, die antiamerikanischer Aktivitäten verdächtigt werden, genießen deswegen weder den Status von Kriegsgefangenen noch auch den, der jedem nach amerikanischem Gesetz bei einem beliebigen Vergehen zusteht.

Weder Gefangene noch Angeklagte, sondern bloß „detainees“, unterliegen sie einer bloß faktischen Herrschaft, einem Gewahrsam, der nicht nur in zeitlichem Sinne, sondern seinem Wesen nach unbestimmt ist, da dem Gesetz und der gerichtlichen Kontrolle entzogen. Der einzig mögliche Vergleich ist der mit der juristichen Lage der Juden in den nationalsozialistischen Lagern, die mit der Staatsbürgerschaft jegliche juristische Identität verloren, aber wenigstens noch die jüdische behalten hatten. Im „detainee“ von Guantanamo erlangt das nackte Leben seine größte Unbestimmtheit und der Ausnahmezustand seine äußerste Absolutsetzung. Die Vereinigten Staaten bedienen sich derzeit des Ausnahmezustands nicht nur als eines Instrumentes der Innenpolitik, sondern auch und vor allem, um ihre Außenpolitik zu legitimieren. Man kann in dieser Hinsicht sagen, daß die Regierung der Vereinigten Staaten dem ganzen Planeten den Status eines permanenten Ausnahmezustandes aufzuzwingen sucht, der als die zwingende Antwort auf eine Art Weltbürgerkrieg zwischen Staat und Terrorismus dargestellt wird.

Der Begriff des Weltbürgerkrieges findet sich im selben Jahr (1961) in Hannah Arendts Buch „On Revolution“ und in Carl Schmitts „Theorie des Partisanen“. Durch die drastische Reduktion der Weltpolitik auf den Gegensatz „Staat/Terrorismus“ wird heute real und effektiv, was bloß ein paradoxer Grenzbegriff zu sein schien. Mittels einer strategischen Verknüpfung der beiden Paradigmen des Ausnahmezustands und des Bürgerkrieges definiert sich die neue amerikanische Weltordnung als eine Lage, in der der Notstand nicht mehr von der Norm unterschieden werden kann und in der sogar die Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden – wie auch die zwischen äußerem Krieg und Bürgerkrieg – unmöglich wird. Dieses Modell ist es, das uneingeschränkt zurückgewiesen werden muß. Denn in dieser Perspektive bilden Staat und Terrorismus am Ende ein einziges System mit zwei Gesichtern, in dem jedes der Elemente nicht nur dazu dient, die Handlungen des anderen zu rechtfertigen, sondern jedes sogar vom andern ununterscheidbar wird.

Und dies ist um so beunruhigender, als die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts deutlich zeigt, daß keine Demokratie einem zu lange ausgedehnten Ausnahmezustand und einem permanenten Kriegszustand zu widerstehen vermag. Unter dem Gesichtswinkel des öffentlichen Rechts kann man den Aufstieg Hitlers zur Macht nicht verstehen, ohne die Geschichte von Gebrauch und Mißbrauch des Artikels 48 der Weimarer Verfassung einzubeziehen, durch den für den Fall, daß die öffentliche Sicherheit und Ordnung ernsthaft bedroht wäre, der Reichspräsident ermächtigt wurde, die Verfassung außer Kraft zu setzen und alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.

Bekanntlich hörte Deutschland in den drei Jahren, die der Machtergreifung Hitlers vorausgingen, de facto auf, eine parlamentarische Republik zu sein, und Hindenburg übte dann eine echte Präsidialdiktatur aus. Ähnliche Erwägungen lassen sich heute für den Staat Israel anstellen, wo der Zusammenbruch der politischen Institutionen offenkundig ist angesichts eines Ausnahmezustandes, den die Regierung, wie es scheint, um jeden Preis aufrechterhalten möchte.

Was würde geschehen, wenn die größte Militärmacht der Welt in eine Dynamik von dieser Art eintreten und sich, wie es faktisch schon der Fall ist, in einen offen antidemokratischen Staat verwandeln würde, in dem das Recht suspendiert und kontinuierlich und präventiv Krieg geführt würde aufgrund von Erfordernissen der nationalen und internationalen „Sicherheit“, über die niemand zu urteilen in der Lage wäre? Daß der Ausnahmezustand tatsächlich aufgehört hat, sich auf eine wirkliche Situation von Gefahr oder Notstand zu beziehen, und heute als eine Regierungstechnik neben anderen funktioniert, wird durch die Tatsache bewiesen, daß die Vereinigten Staaten sich auch dann auf ihn berufen, wenn die ihre Politik leitenden Motive offensichtlich von anderer Art sind.

Einer der uneingestandenen – aber deswegen nicht zweitrangigen – Gründe für den Irak-Krieg ist sicher die Absicht, Europa zu schwächen. Da Europa eine wirtschaftliche Macht geworden war, die die Überlegenheit der Vereinigten Staaten bedrohte, wollten diese beweisen, daß Europa keinerlei politische Existenz besaß. In den Monaten, die dem Krieg vorausgingen, hat die amerikanische Diplomatie offen und systematisch daran gearbeitet, die politische Einheit Europas zu zerstören -und es ist ihr leider gelungen.

Die Verwandlung des Ausnahmezustands in ein normales Regierungshandeln ist im übrigen keine ausschließlich amerikanische Eigenart. In Italien haben seit Ende der siebziger Jahre Ausnahmegesetze, die in Form von Rechtsverordnungen der Regierung erlassen wurden, einschneidende Beschränkungen der bürgerlichen Freiheiten eingeführt. Diese Gesetze, die ursprünglich bestimmt waren, dem Notstand des Terrorismus zu begegnen, sind noch immer in Kraft, so daß jemand, der heute einen Freund oder einen Verwandten bei sich wohnen läßt, ohne die Polizei zu unterrichten, mit Haft bedroht ist. Die jüngst in Frankreich auf Betreiben des Innenministeriums verabschiedeten Gesetze sind eine Verletzung der europäischen Rechtskultur und erinnern, insbesondere was die Festnahme und die Schuldfähigkeit von Minderjährigen betrifft, an ähnlich barbarische Maßnahmen in den Vereinigten Staaten.

Auch die herrschenden Klassen in Europa scheinen keine anderen politischen Paradigmen im Kopf zu haben als Notstand und Sicherheit. Auf allen Gebieten suchen sie nicht so sehr den Notstand zu vermeiden, sondern ihn zu fördern, um ihn dann für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. So jubelte nach den Vorfällen von Genua ein Polizeibeamter treuherzig: „Die Regierung will nicht die Ordnung, sie will die Unordnung verwalten.“ Ein solches Regierungshandeln läuft allerdings Gefahr, zu einer Entpolitisierung der Gesellschaft zu führen, ähnlich der, die sich seit langem in den Vereinigten Staaten vollzogen hat. Von der amerikanischen Politik Distanz zu nehmen kann für Europa nur heißen, daß es diese Paradigmen aufgibt und wieder einen Raum für das Denken und für das politische Handeln öffnet.

(Übersetzung: Henning Ritter)