Die kultuRRevolution nördlich und südlich des Mittelmeers

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Eine Rezension von Jobst Paul. Erschienen in DISS-Journal 23 (2012), 21-23

Auch wenn die Distanz noch fehlt und nur eine essayistische Annäherung möglich ist, versucht das Team der kultuRRevolution im Doppelheft 61/62 u.a. mit den vorhandenen Instrumenten der Normalismus- und der Kollektivsymbol-Theorie möglichst nah ans revolutionäre Geschehen „südlich und nördlich des Mittelmeers“ heranzurücken. Ohne Zweifel angetrieben durch Jürgen Links unbändige Überzeugung: „Jetzt laufen die Maschen der Denormalisierung, jetzt proliferieren kulturrevolutionäre Drives“, vor allem: „jetzt hat sich der Kairos des Projekts kRR weit geöffnet.“

Im Editorial wundert sich Jürgen Link (Zu diesem Doppelheft, S. 3-4) nicht über die Ratlosigkeit von Intellektuellen, die seit 1989 Dinge wie „Antagonismus oder gar Kulturrevolution“ von sich wiesen.

Einfach zu entwirren sind die verknoteten Kämpfe freilich nicht – der Betrachter (so Jürgen Link) hat die Denormalisierungen, die von kulturrevolutionären Bewegungen ausgehen, ebenso wahrzunehmen wie jene, die sich auf diese Bewegungen richten. Vor allem aber heißt es, nicht in die Falle der binären Reduktionismen zu tappen, der falschen Alternativen zwischen (schlechtem) Islam und (guter) westlicher Aufklärung, zwischen (schlechtem) politisch gefasstem Islamismus und (guter) westlicher „Stabildemokratie“. Jürgen Link spricht in seinem Leitartikel (Von der Denormalisierung zu kulturrevolutionären Drives, S. 12-18) von einer „Megakrise“, die sich seit 2008 in einer Abfolge bzw. dem Nebeneinander ökonomischer, technischer und politischer Schübe entfalte. Zugleich sei die Megakrise „der Kairos (der »passende Moment«) für das Projekt der Zeitschrift »kultuRRevolution« (kRR)“. Ein Zusammenhang zwischen den Ereignissen in Europa und Nordafrika lässt sich mit den unterschiedlichen Normalitätsklassen herstellen, in denen sich diese Länder befinden. Die Ereignisse im nördlichen Mittelmeer (Griechenland, Spanien, Portugal) standen im Zusammenhang der Krise und führten zur ‚Entlarvung‘ der europäischen Abstiegskandidaten und zum Programm der ‚Exekution‘ des Abstiegs von der zweiten in die dritte Normalitätsklasse. Die Revolten südlich des Mittelmeers scheinen – so Link – mit der europäischen Krise nichts zu tun zu haben. Allerdings seien auch dort die gut ausgebildeten jungen Generationen über globalisierte Medien in ihrem Selbstverständnis an die höheren ‚Normalitätsklassen‘ Europas angedockt: Ihre Revolte brachte zum Ausdruck, dass es ihnen darum geht, zumindest in die zweite Normalitätsklasse aufzusteigen, wenn nicht gar zur ersten Liga zu gehören. Auch die ‚Selbstverständigungslabors‘ nördlich des Mittelmeers werden getragen von gut ausgebildeten, arbeitslosen jungen Generationen, die sich zusammen mit den verarmten städtischen Schichten sträuben, ‚abzusteigen‘. Unterschiedliche Vektoren bestimmen also den jeweiligen ‚Antagonismus‘, nördlich als „Weigerung gegen den ‚Abstieg‘“, südlich des Mittelmeers als „Wille zum ‚Aufstieg‘“

Zwar spalten sich die beiden Bewegungen auch im Begriff der geforderten Demokratie – im Süden geht es um eine parlamentarische Demokratie, im Norden eher um ‚direkte‘ Demokratie. Allerdings entsprachen sich die Experimente der direkten Demokratie innerhalb der jeweiligen revolutionären Camps (‚Nachtlager‘) und ihre Offenheit für „alternative Wissensinstrumente“, z.B. für neue Kommunikationsformen. Eine „historische Größe“ erkennt Link darin, dass die arabischen Revolten zwar mit dem Rückenwind der stärkenden „Funktion des Moments ‚nach dem Freitagsgebet‘„ versehen waren, ihre Bedeutung aber mit dem säkularen Tahrirplatz teilen mussten. Links Vision geht von da weiter zum „Surplus einer blockadefreien Kollektivität“, zu einem neuen kulturrevolutionären „As-Sociationstyp“. Dieser, „wie er sich ‚spontan‘ bereits auf dem ersten und dann auf all den weiteren Tahrirs abzeichnet, wird pluralistisch sein, also ein plurales ‚Wir‘ (die Subjektivität einer ‚Multi-tudo‘ nach Negri und Hardt) entwickeln. Vielleicht wird er ein solches ‚Wir‘ mit dem ‚Wir‘ eines multi-inventiven Selbstverständigungslabors verbinden.“

Oliver Kohns: Zum Kampf gegen das Prinzip der Repräsentation

In seinem Beitrag verweist Oliver Kohns (Guy Fawkes, 2011. Ein Beitrag zur politischen Ikonographie des Aufstands, S. 19-26) auch auf eine „ikonographische Inszenierung von Einheit“ insbesondere in der Occupy-Bewegung: Die aus dem Film V for Vendetta und nicht so sehr vom historischen Guy Fawkes adaptierte Guy-Fawkes-Larve rückt das Kollektiv der Träger „in einen fiktionalen und imaginären Raum“. Über die assoziative Verweisung auf die griechische Tragödie und die Bibel – so Kohns – kündigt sie „das Erscheinen eines machtvollen »Wir« an und veranschaulicht im „ironischen Gegensatz zur antikapitalistischen Tendenz der Proteste“ die „Erwartung eines zukünftig erscheinenden politischen Subjekts.“ Die Demonstration von Undurchschaubarkeit ist als Akt deutbar, Attribute der Macht zu okkupieren. Kohn verweist auf die Herleitung der ‚künstlichen Person‘ des Staats bei Hobbes als ‚persona‘, d.h. als Maske der Schauspieler. In eben diesem Sinn sei auch V for Vendetta deutbar, nämlich als „Erzählung über die Möglichkeit der Okkupation und Kaperung offizieller Repräsentation“, als „Selbsteinsetzung einer konkurrierenden politischen Repräsentation“. Im Film V for Vendetta markiere der „massenhafte Auftritt der mit »V«s Guy-Fawkes-Maske vermummten Menschen“ das Erscheinen des „Volks als politischem Subjekt, und damit das Ende des faschistischen Regimes“. Im gleichnamigen Comic – so Kohns – trete das ‚Volk‘ (als Souverän) hinter der Maske hervor und breche das Schweigen (als vox populi). Kohns verweist auf die politologische Bedeutung der Aufhebung des Repräsentativen bei Rousseau und Carl Schmitt. Von dort schlägt der Autor die Brücke zu anderen filmischen Inszenierungen „des sich zum dramatischen und politischen Akteur formierenden Volks“, etwa in Panzerkreuzer Potemkin.

Mit dem Verweis auf „die totalitäre Dimension der Volksinszenierung im sowjetischen Film — aber auch in V for Vendetta“ zielt Kohns auf die überraschende Tatsache, dass die demokratische Bildersprache unversehens mit der totalitären zusammen fallen kann. Verantwortlich für diese Ambivalenz ist der „Kampf gegen das Prinzip der Repräsentation“, den auch das Essay Der kommende Aufstand fordert und den die Guy-Fawkes-Maske symbolisiert.

Khadjja Katja Wöhler-Khalfallah und Eva Link: Der Kampf um die Würde in Tunesien und Ägypten

Khadjja Katja Wöhler-Khalfallah (Tunesien: Ein Volk ringt um Freiheit und Würde, S. 27-34) schildert den komplexen, keineswegs gradlinigen Prozess der tunesischen Revolten seit etwa 2000 und 2001 (mit dem Start von Al-Jazeera) bis zur Absetzung Zine al-Abedin Ben Alis. Aus der Sicht von Wöhler-Khalfallah bedeutete die tunesische Revolution „die kollektive Überwindung der Angst vor einem unglaublich repressiven Polizeistaat“ und „die Rückgewinnung der Freiheit und der Würde“. Die zunächst wenig empathische westliche Reaktion war bestimmt von der Fixierung auf „einen angeblich mit Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit nicht zu versöhnenden Islam“ und von der Unfähigkeit, „Islam, Volksislam und seine fundamentalistische Variante voneinander zu unterscheiden“.

Im Gegensatz zur westlichen Wahrnehmung hat Tunesien – so Wöhler-Khalfallah – „schon unzählige Revolten gegen seine beiden Diktaturen“ hinter sich. Habib Bourguiba, der nach der Unabhängigkeit von Frankreich 1956 Premierminister wurde, konnte an eine bereits liberale Verfassung von 1861 anknüpfen. Orientiert am französischen zentralistischen Rationalismus, entpuppte er sich aber schnell als rigoroser ‚Educateur‘. Statt die Demokratie auf den vorhandenen muslimisch-inkulturierten Strukturen zu errichten, beseitigte er sie und gab sich stattdessen selbst einen religiösen Anstrich. Zweifellos hat sein Konzept einer gelenkten rationalistischen Bildung (ohne Freiheit) eine gewisse Eigendynamik in Gang gesetzt. Doch als sich eine sozialistische Oppositionsbewegung bildete, schickte er die inzwischen radikalisierten Muslimbrüder ins Rennen, ließ diese aber bald wieder verfolgen. 1987 kam es zum Putsch durch Zine al-Abedin Ben Ali, der Tunesien, trotz seiner exzellenten Kultur- und Bildungsmöglichkeiten, zum korrupten Polizeistaat machte. Wöhler-Khalfallah ergänzt ihre Darstellung mit einer gedrängten, außerordentlich verdienstvollen Chronologie der Ereignisse bis zu und nach der Flucht Ben Alis (Tunesien: Für ein Fest der Demokratie. Die Monate nach Ben Alis Flucht, S. 52-57).

In einem weiteren, sehr detailreichen Überblick liefert Khadjja Katja Wöhler-Khalfallah (Ägypten und das Erbe seiner Pharaonen: Das beschwerliche aber entschlossene Schreiten in die Befreiung, S. 39-51) nicht nur eine ähnliche Chronologie der dramatischen Abläufe der ägyptischen Revolution im Januar 2011, sondern führt auch in die wechselvolle wie leidvolle Geschichte des modernen Ägypten ein, beginnend mit dem napoleonisch-britischen Kampf um Ägypten.

Eine mit tiefer Verschuldung einhergehende Modernisierung Mitte des 19. Jahrhunderts führte 1882 in die britische Kolonialherrschaft, die 1922 – allerdings nur formal – zu Ende ging. Es war auch das Jahr der Entdeckung des Grabs Tutank-hamuns und des Beginns einer neuen ägyptischen Identität. Nach einer kurzen parlamentarisch-systemkritischen Phase und dem Umschlag in eine komplexe muslimische Rekonfessionalisierung erstarkte auch in Ägypten ein von Europa, insbesondere auch von Deutschland inspirierter Faschismus. Die Palästinafrage (seit 1936) führte schließlich zu einer tatsächlichen ägyptischen Allianz mit Nazi-Deutschland und dem Vichy-Regime gegen die Briten. Das innerägyptische Chaos, das die Teilung Palästinas (UN-Resolution des Jahres 1947) und die Gründung des Staates Israel (1948) hinterließen, wurde dann zur Grundlage des nationalistischen Militärputsches 1952 unter Nasser.

Khadjja Katja Wöhler-Khalfallah‘s nachfolgende Darstellung der Regime Nasser (bis 1970), Sadat (1981) und Mubarak (bis 2011) offenbart schließlich die Aporie, die seit Jahrzehnten die ägyptische Politik begleitet hat und deren unerträgliche Zuspitzung im Januar 2011 in Suez, Alexandria, Assouan, Assiout und Kairo zu Revolten führte: Es handelt sich um die Etablierung der ökonomischen und politischen Eliten (institutionalisiert im Militär) als korrupte Oligarchie, die sich die Ressourcen und die Industrie, und schließlich sogar auch noch das Land selbst unter sich aufteilte. Dennoch ist diesen Eliten die kapitalistische Modernisierung Ägyptens gegen den Großteil der verarmten, aber weiterhin religiös-kulturkonservativen Bevölkerung nicht gelungen. Ironischerweise bleibt so die Religion, auch wenn die Oligarchen ihre Macht verlören, ein beharrender Faktor auch gegen das Konzept der derzeitigen Revolutionäre.

Was also tun, wenn sich nun herausstellt, dass die Revolution vorerst nicht zur Ablösung des Militärs geführt hat? Aus Zwei Gesprächen mit vier Ägyptern über ihr Land nach der Revolution (Eva Link, S. 35-38) geht nicht nur die Befürchtung hervor, eine ‚zweite Revolution‘ könnte zum Blutbad führen, sondern zugleich die umgekehrte, vielleicht irrationale Hoffnung, das ägyptische Militär – nachdem es der Revolte zumindest nicht wirklich im Wege stand – möge sich letztlich doch noch als Hüter des Volks erweisen. Es bleibt aber – so oder so – bei der Forderung und Gewissheit, dass der Druck von unten nicht mehr zu brechen sein wird.

Fasst man die Berichterstattung, Kommentierung und Analyse des arabischen Frühlings und seiner europäischen Resonanzen bis hierher zusammen, insbesondere vor dem Hintergrund von Jürgen Links Versuchs einer normalismustheoretischen Einordnung, so muss notgedrungen nicht nur auffallen, wie sehr sich das Politische, das Handeln vieler Einzelner, letztlich jeder Prognostik entzieht, sondern auch, dass sich das Politische mit den zumeist wenig erbaulichen Vorhersagen nicht zufrieden gibt: Ebenso wie Jürgen Link sich als Resultat der arabischen und europäischen Aufbrüche die Entstehung eines Wir als „eines multi-inventiven Selbstverständigungslabors“ erhofft, so erinnert Khadjja Katja Wöhler-Khalfallah an die Hoffnung des ägyptischen Schriftstellers Khaled al-Khamissi, das ägyptische Aufbegehren könne „eine von den 4 Milliarden Jugendlichen auf dem gesamten Globus konzipierte neue Weltordnung“ auslösen. Wöhler-Khalfallah ergänzt, niemand vermöge schon heute vorauszusagen, wohin das Geschehen „unter Umständen die gesamte Menschheit eines Tages zu führen im Stande sein könnte. Reformbedürftig ist auch jenseits Ägyptens noch einiges.“

Dieses visionäre Element findet sich schließlich in den Berichten von Margarita Tsomou, Vassilis Tsianos, Dimitris Papadopoulos (Athen: Metropolitane Blockade, direkte Demokratie ((Vgl. bereits DISS-Journal 22 (2011). Vgl. dort auch den Kommentar von Xavier Giró (Spanien: Die Rechte nutzt die Unzufriedenheit über die Soziale Ungerechtigkeit aus) und (unter https://www.diss-duisburg.de/2011/11/15-m-year-zero/ ) die Impressionen der spanischen Linguisten Jorge Lozano und Marcello Serra (15 M: Year Zero). )), S. 64-68) und von Maria Corredera und Amador Fernández-Savater zu den spanischen Indignados von 15-M eindrucksvoll hervorgehoben:

Nach Auffassung von Maria Corredera bündelt sich in der Bewegung der spanischen Indignados (Die Indignados von 15-M, S. 58-61) eine ganze Reihe von Motiven und Zielen. Zweifellos empfing die Bewegung starke Impulse durch die arabischen Revolutionsereignisse und – was ganz besonders erstaunt – gewann die Sympathie in ganz Spanien. Kleinster gemeinsamer Nenner mag die Weigerung sein, für die Rechnung der Verursacher und Profiteure der Finanz- und Bankenkrise aufzukommen. Doch geht es im Kern um nicht weniger als um eine Wende im Weltmaßstab, um die Einleitung eines historischen Momentums. Mit dem Internet ist ein Hebel gewonnen, sich ebenso von den Medien und ihrer Verstrickung in die Macht zu lösen wie von einer korrupt gewordenen Demokratie. Die neuen Formen direkter Demokratie, die ‚Nachtlager‘, Friedlichkeit, neue gestische Rituale u.a.m. fallen zusammen mit der sozialen und soziologischen Zusammensetzung der Bewegung – sie ist zum Sinnbild des sozialen Nullpunkts geworden, für Schichten, die bisher nichts miteinander zu tun hatten und nun alle von der Krise betroffen sind.

Im Zentrum aber steht eine gut ausgebildete, arbeitslose Jugend. Im Gegensatz zur breiten Bevölkerung bringen die etablierten Gesellschaftsschichten und die Medien, aber auch die Gewerkschaften nicht wirkliches Verständnis auf und sind ratlos bis abweisend. Umgekehrt hält die Bewegung ihrerseits Abstand zu diesen Machtkonglomeraten, während die radikale Linke verunsichert ist und um ihren Bestand fürchtet. Heimliches Inspirationszentrum der Bewegung sind freilich einige wenige ‚alte Männer‘. Es ist die faszinierende Unabhängigkeit, die Stéphane Hessel oder José Luis Sampedro kennzeichnet und die ihre Kapitalismus- und Medienkritik so überzeugend macht. Diese Unabhängigkeit scheint den Kern von la ilusión, der Vision der Indignados, auszumachen.

Doch die 15. Mai-Bewegung hat – so Amador Fernández-Savater („15. Mai“: Eine Revolution aus Personen, S. 62-63) – nicht nur Rituale, sondern auch bedeutungsvolle Begriffe hervorgebracht, wie z.B. ‚Respekt‘ und ‚globale Revolution‘. Eine besondere Rolle aber spielt – wie in der kritischen Analyse von Oliver Kohns (Zum Kampf gegen das Prinzip der Repräsentation) schon hervorgehoben – der Begriff der ‚Person‘, der letztlich einen ‚sich selbst vertretenden Bürger‘ meint. Dahinter verbirgt sich spezifisch in Spanien die Wiederentdeckung des Politischen nach vielen Jahren der gesellschaftlichen Entpolitisierung. Letztere wurde befördert durch Warnungen, die Rechte könnte an die Macht kommen, wenn die Kritik an Links und der Linken zu stark würde. Das Ergebnis war – trotz der Rituale der Streiks und der Demonstrationen – eine verbreitete Lethargie.

Am 15. Mai war alles mit einem Mal anders, verbunden mit einem Übermaß an Hoffnung und Euphorie: Da traten nun die Einzelnen mit allem Privaten, mit all ihrem Vertrauen und ihrer Authentizität öffentlich hervor, die sie zuvor nur in die Kommunikation der Sozialen Netzwerke gesteckt hatten – Persönliches und Öffentliches verschmolzen, das ‚Gesellschaftliche‘ verkörperte sich. Zugleich fiel das Repräsentative, fielen aufgezwungene Rollen weg: Die Zeltstädte wurden zu Schauplätzen der Anonymität der vielen Einzelnen, und die Macht dieser Anonymität, die ohne Führer auskommt, wurde spürbar. Eines blieb dabei freilich ungelöst: Die Erfahrung und das Konfliktpotenzial von Differenz und Dissens standen lediglich im Raum.

Der Person-Diskurs steht selbstverständlich auch im Zusammenhang der Frage nach der Menschenwürde im Zeitalter der Globalisierung. Nun geht es freilich nicht mehr um einen abstrakten Wert, sondern um eine „planetarische“ Notwendigkeit. Daher tritt das derzeitige Dilemma scharf hervor, dass Bewegungen wie die des 15. Mai immer noch national sind und man zur ‚weltweiten‘ Revolution nur aufrufen kann, während uns die Kategorie der ‚Welt‘ noch immer sehr abstrakt vorkommt.

Wieviel Kulturrevolution am Mittelmeer?
kultuRRevolution 61/62 (2011/2012)
hg. von Jürgen Link und Rolf Parr
Klartextverlag Essen, 112 S., 20 €