Spanien: Die Rechte nutzt die Unzufriedenheit über die Soziale Ungerechtigkeit aus

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Von Xavier Giró, erschienen in DISS-Journal 22 (2011).

Mehr als die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit steht in Spanien die Empörung über soziale Ungerechtigkeit auf der Tagesordnung. Dennoch wird die Rechte – Partido Popular (PP) – gemäß aller Vorhersagen bei den Wahlen am 20. November triumphieren. Die PSOE, seit 2004 an der Regierung, wird aller Voraussicht nach ihr niedrigstes Wahlergebnis seit 1977 davontragen. Die Frage ist, warum?

Erstens, es gibt Gründe wütend zu werden: Die Unzufriedenheit über die von der Regierung Zapatero gemachten sozialen Einschnitte – vor allem im Bereich der Pensionen und Gehälter – die auf einen nur geringen Widerstand von Seiten der großen Gewerkschaften stießen, nimmt mit jedem Tag zu.  Als wenn dies noch nicht genug wäre, kommen zusätzliche Kürzungen im Finanzhaushalt der Autonomen Regierungen hinzu, vor allem in Katalonien mit seiner rechts-nationalistischen Regierung im Bereich Gesundheit und speziell in Madrid, mit eine PP-Regierung im Bereich Bildung.

Die Staatsausgaben für Gesundheit bewegen sich pro Jahr bei 65 Milliarden Euro und liegen in Relation zum Bruttoinlandsprodukt zwei Prozent unter dem EU-Durchschnitt. Die Einschnitte im Gesundheitswesen und die Erhöhung des Beitrags der Bürger zu ihren Behandlungskosten werden als unvermeidbar präsentiert. Merkwürdigerweise ist das öffentliche Gesundheitsbudget pro Kopf in den Ländern, in denen die privaten Versicherungen mehr Gewicht haben (in Katalonien, Madrid und den Balearen), niedriger.

„Spain is different“, proklamierte die Tourismus-Branche vor einigen Jahren. Eine ‚Andersartigkeit‘, nämlich die Schädigung des Sozialstaates, ist sicherlich auf die Steuerhinterziehung zurückzuführen. In Spanien ist sie auf 20 bis 25 Prozent der staatlichen Einnahmen gestiegen, 10 Prozent mehr als der europäische Durchschnitt. Nach einer optimistischen Schätzung geht es um ein Volumen von insgesamt 60 bis 80 Milliarden Euro. Dagegen geht die Gewerkschaft der Steuerprüfer von hinterzogenen 165 Milliarden Euro aus. In jedem Fall eine skandalöse Summe, wenn man in Betracht zieht, dass schon mit der optimistischen Zahl die Gesundheitsausgaben gedeckt wären.

Die sozialen Einschnitte, vor allem im Bereich des öffentlichen Bildungssystems, führen zu einer Ausweitung des privaten Bildungssektors, so wie es bereits im Bereich Gesundheit geschehen ist. In der Region Madrid mobilisieren sich Lehrerinnen, Schülerinnen und Teile der Eltern seit Anfang des Schuljahres gegen die Kündigung von 2.500 Lehrerinnen, während die Regionalregierung die Grenze des absetzbaren Betrages für Ausgaben im Bereich privater Bildung von 10.000 auf 30.000 Euro pro Familienmitglied erhöht hat.

Auf der anderen Seite des sozialen Spektrums nimmt die Armut ungehindert zu. Nach einem Mitte 2011 veröffentlichten Bericht des Spanischen Wirtschafts- und Sozialrates hat sich die Anzahl der Haushalte, die keinerlei Einkünfte erzielen, seit Beginn der Krise Ende 2007 um 120% auf 265.000 erhöht. Allein 2010 betrug der Anstieg 115.000.

Es verwundert schon fast nicht mehr, dass die Arbeitslosenquote bei 20,89 Prozent, also bei 4.833.700 Personen, liegt. Die am meisten Betroffenen sind unter 25-Jährige mit einem Arbeitslosenanteil von 46 Prozent, und Migrantinnen (mit Aufenthaltsgenehmigung), bei denen der Anteil der Erwerbslosen bei 32 Prozent liegt. Für Letztere ist der Verlust des Arbeitsplatzes umso dramatischer, denn ohne Arbeit ist eine Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung ausgeschlossen.
Resultierend aus der Krise konnten zahlreiche Haushalte die von ihnen aufgenommenen Hypotheken nicht mehr bedienen. Seit 2008 wurden 350.000 Wohnungen geräumt. Im zweiten Quartal des Jahres 2011 wurden die Häuser von 16.464 Familien zwangsgeräumt, 21% mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die Empörung kann sich nur steigern, wenn man in Betracht zieht, dass es in Spanien 3,5 Millionen leerstehende Häuser gibt, deren Zweck kaum mehr als der der Spekulation ist.

Zweitens, diese Zahlen sind nicht plötzlich im Mai 2011 aufgetaucht. Ein großer Teil war bereits vorhanden. Die Frage ist: Warum also und wie formierte sich die Bewegung der Indignados (der Empörten)?

Im Mai 2011 waren es gerade einmal einige Wochen, dass der Arabische Frühling auf den zentralen Plätzen einiger arabischer Hauptstädte ausgebrochen war. In Tunesien oder auch in Ägypten hätte es nicht besser laufen können. Ungeachtet aller Unterschiede waren es diese Beispiele, die die jungen Spanierinnen inspirierten.Die Bewegung der sogenannten Indignatos begann mit dem Aufruf der Gruppe Democracia Real Ya (Echte Demokratie Jetzt) am 15. Mai (daher auch die Bezeichnung 15-M.) Im Vordergrund stand der Protest gegen Korruption, die Demonstration für mehr Transparenz im Verwaltungsbereich, für ein tatsächlich repräsentatives politisches System und gegen die so genannte clase política (politische Klasse), wie sie aufgrund ihrer Unfähigkeit, einen Ausweg aus der ökonomischen Krise aufzuzeigen, genannt wurde. Der Misskredit, in den eigentlich alle Parlamentarier gebracht wurden, regierte überall.

Auch Abgeordnete der Parteien links von der PSOE (inklusive der Ex-Kommunisten) wurden mit dem gleichen Stigma versehen. In den Versammlungen auf den Plätzen konnte niemand, der als Parteiangehöriger identifiziert wurde, sprechen, ohne dass ein bedeutender Teil der Anwesenden die Wortmeldung boykottierte. Die Vielzahl der Gründe, warum man über das System wütend sein kann, aber auch die Freude darüber, dass so viele neue Gesichter, größtenteils junge, aktiv geworden sind, erklärt das große öffentliche Echo.

Zwischen 70 und 80 Prozent der Spanier unterstützten nach Umfragen die Personen, die im Mai als selbsternannte Indignados den Platz Puerta del Sol in Madrid und den Plaza de Cataluña in Barcelona sowie weitere zahlreiche Plätze in anderen Städte besetzt hatten. Bei den Demonstrationen einen Monat später bestätigte sich, dass Tausende die Bewegung aktiv unterstützten. Und mehr noch: die Hunderttausende, die am 15. Oktober, also fünf Monate nach dem 15. Mai, in ganz Spanien dem Aufruf zur Demonstration folgten, bezeugen, dass das Unbehagen andauert.Man muss jedoch sagen, dass die diversen Strömungen der Bewegung ideologisch sehr unterschiedlich sind und im Verhältnis zur gesamten Wahlbevölkerung immer noch einen nur geringen Prozentsatz ausmachen. Und obwohl die Rechte bereits damit begonnen hat, mit Aktionen in einzelnen Regionen ihre neoliberale Politik zu bekräftigen, sind ihre Einbußen und ist ihr Verschleiß nur sehr gering.

Das Vertrauen in die Banken ist im Zuge der ökonomischen Krise am niedrigsten Punkt angelangt. Da jedoch bei Wahlen keine Banken, sondern Parteien gewählt werden, ist es die Glaubwürdigkeit der regierenden Partei, der PSOE, die am meisten auf dem Spiel steht. Nun gut, links der PSOE gibt es keine Alternative, die aus dieser Konstellation als Profiteur hervorgehen könnte. Der Weg ist also frei für die PP.

(Übersetzung: Xavier Giró und Stefanie Armbruster)