Die „Irrungen“ eines „Fehlgeleiteten“

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Der Historiker Theodor Schieder und der Nationalsozialismus. Von Michael Lausberg. Erschienen in DISS-Journal 19 (2010)

Nachdem Quellen über seine Tätigkeit in der NS-Zeit veröffentlicht worden waren, fand in den 1990er Jahren eine intensive Auseinandersetzung innerhalb der Geschichtswissenschaften über das Wirken des Historikers Theodor Schieder statt. In den letzten Jahren mehren sich die Tendenzen, Schieders Tätigkeit im „Dritten Reich“ zu entdämonisieren und damit zu relativieren. So bemerkte Hans-Ulrich Wehler: „Ich gebe mich nicht damit zufrieden die Sache (Schieders Wirken in der NS-Zeit, M.L) so wie Aly und Schöttler zu betrachten und die Untersuchung 1945 abzubrechen. Das ist unbefriedigend. (…) Der Dreh- und Angelpunkt meines Argumentes ist, daß Conze und Schieder reflexiv gelernt, wobei dieses Urteil für viele strittig bleibt.“ (Wehler 2000a, 256) Michael Stürmer sagte: „Die Generation (…) also Conze, Schieder u.a. (…) kam aus den Brüchen von Weimar, im Bewußtsein des Kriegsendes, taumelte in die ‚völkische Revolution’ und hatte wahrscheinlich so wenig Urteilsvermögen wie die meisten Akademiker. (…) Da sind sie halt – mehr oder weniger mitgeschwommen. (…) Sie haben sich verführen lassen – so sind Menschen.“ (Stürmer 2000, 362f.) ((Und Lothar Gall, ehemaliger Schüler von Schieder, äußerte: „Natürlich gibt es Formulierungen in den Schriftstücken (Schieders, M.L.), die uns vorliegen, die besonders grell klingen, aber man müßte einmal genau sehen, wie sich das in den jeweiligen Kontext einordnet.“ (Gall 2000, 313) )) Dazu wird ein Dualismus zwischen dem jungen Schieder, der sich nach 1933 bereitwillig in den Dienst der nationalsozialistischen Ostpolitik gestellt hatte, und dem angeblichen Wandel zum demokratischen Vorzeigewissenschaftler nach 1945 konstruiert. ((So differenzierte Wehler in dem autobiographischen Werk „Eine lebhafte Kampfsituation“ zwischen der Tätigkeit Schieders in der NS-Zeit und der Zeit nach 1945. (Vgl. Wehler 2006, 56ff.) )) Solchen relativierenden Deutungsversuchen soll hier entgegentreten werden.

Schieders Werdegang bis 1945

Zum 100. Geburtstag Schieders am 11.4.2008 erschien im Feuilleton der FAZ ein Artikel von Hans-Ulrich Wehler, in dem er eine Bagatellisierung des Wirkens Schieders in der NS-Zeit betrieb. Die Historikergeneration in der NS-Zeit seien „Fehlgeleitete“, die aber in der frühen Bundesrepublik ein „glaubwürdiges Engagement“ zeigen. Sie hätte aus den „Fehlentscheidungen ihrer jungen Jahre“ dank ihrer „Lernbereitschaft und Lernfähigkeit“ nach 1945 „produktive Konsequenzen“ gezogen. Wehler folgerte daraus: „Den Toten, deren gute Jahre wir selbst miterlebt haben, schulden wir unverändert unsere Loyalität.“ ((http:/lesesaal.faz.net/wehler/pdf/wehler%20zu%20Schieder.pdf))

Schieder, der die Deportation mehrerer hunderttausend Polen zum „Aufbau einer gesunden Volksordnung“ und die „Entjudung Restpolens“ (Ebbinghaus / Roth 1992, 67f.) vorschlug, ein „Fehlgeleiteter“? Schieder, der nach 1945 die Aufarbeitung der eigenen Biographie unterließ und kein Bekenntnis der eigenen Schuld ablegte, besaß Lernbereitschaft und Lernfähigkeit? Verdient ein „Protagonist des Dritten Reiches“ ((Aly, 1998, 13-27)) unsere Loyalität?

Die Tatsache, dass es einem Skandal gleichkommt, Schieder nach seinem Wirken im Nationalsozialismus einen Lehrstuhl an der Universität Köln zu geben, wird von Wehler in seinem Artikel geflissentlich übergangen. Theodor Schieder (1908-1984) war neben Werner Conze einer der einflussreichsten westdeutschen Historiker im postfaschistischen Deutschland. ((Werner Conze (1910-1986) promovierte 1934 im ehemaligen Königsberg bei Hans Rothfels. Nach seiner Habilitation bekam er 1943 einen Ruf an die „Reichsuniversität Posen“, dem er aufgrund eines dauerhaften Einsatzes als Frontoffizier nur für wenige Wochen folgen konnte. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges lehrte er in Göttingen, Münster und Heidelberg, wo er 1969/70 zum Rektor gewählt wurde. Conze arbeitete seit 1934 auf den Feldern der „Ostforschung“ und der völkisch geprägten „Volks- und Kulturbodenforschung“. In der NS-Zeit verlangte Conze „erbgesundes Bauerntum als Blutquell des deutschen Volkes“ und forderte 1940 die „Entjudung der Städte und Marktflecken“ im besetzten Polen. (Vgl. Klee 2005, 96) )) Schieder und Conze entwickelten sich zu „Säulenheiligen der modernen Zeit- und Sozialgeschichtsforschung in Deutschland.“ (Aly 1997, 153)

Seit seiner Studienzeit war Theodor Schieder wie Werner Conze, Erich Maschke und Theodor Oberländer seit Ende der 1920er Jahre Mitglied in der bündischen Vereinigung „Deutsch-Akademische Gildenschaft“. (Vgl. Kellershohn 2004, 262) Dieses Netzwerk sollte und wollte die Karrieren seiner Mitglieder an den Hochschulen und innerhalb von Parteien oder Behörden vorantreiben. Die „Deutsch-Akademische Gildenschaft“ besaß vor allem gute Kontakte zum Lehrstuhl von Hans Rothfels im ehemaligen Königsberg, bei dem Werner Conze promovierte. Weiterhin gab es Verbindungen von Schieder und Oberländer „in die rechtsradikalen Kampf- und Geheimbünde in der Zwischenkriegszeit als auch in die größeren Interessenverbände des Grenzund Auslandsdeutschtums hinein.“ (Haar 1997, 70f.) Schieders besonderes Interesse innerhalb der Geschichtswissenschaften galt dem Kampf gegen das als schmachvoll empfundene „System von Versailles“, das für Deutschland zu Gebietsabtretungen geführt hatte, so dass viele „Volksdeutsche“ außerhalb der deutschen Staatsgrenzen lebten. (Vgl. Kocka 2000, 344) Er sah in den Plebisziten und den Massendemonstrationen gegen die Umsetzung des Versailler Vertrages im Osten ein wichtiges Mittel der „Widerstandsbewegung des Osten gegen Versailles“. Schieder schrieb:

„(…) Deutsche Volkskraft überwindet politisch und was entscheidend ist, von innen her Versailles: ein Mittel zur Niederhaltung und Spaltung deutschen Volkstums wird zu einem Mittel der Bewährung der Volksgemeinschaft.“ (Zitiert nach Mommsen 2000, 191)

Schieder promovierte 1933 in München bei Karl Alexander von Müller mit einer Arbeit über die „Kleindeutsche Nationalbewegung in Bayern von 1863-1871“. Im Vorwort der Druckfassung im Jahre 1936 verlangte er eine „stärkere Durchdringung der großdeutschen Bewegungselemente“ und eine „neue Deutung vom gesamtdeutschen historisch-politischen Denken her.“ Den „Anschluss“ Österreichs im Jahre 1938 empfand er als Erfüllung der „großdeutschen Hoffnungen“. ((Wehler 2000b, 316. Die Dissertation wurde 1936 in erweiterter Fassung veröffentlicht: Schieder 1936.))

Im Februar 1934 wechselte er an die Universität Königsberg, um dort bei Hans Rothfels seine Habilitationsarbeit zu schreiben. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch. Der seit 1926 als Professor an der Albertina lehrende Hans Rothfels wurde 1934 wegen seiner jüdischen Herkunft von seinem Lehrstuhl vertrieben. ((Hürter / Woller (Hg.) 2005, 12. Die Person Hans Rothfels wurde in jüngster Zeit zum Gegenstand einer geschichtswissenschaftlichen Kontroverse. Dabei geht es darum, inwieweit der ultranationalistische Historiker während seiner Lehrtätigkeit einen Standpunkt vertreten hatte, der sich an die NS-Ideologie anlehnte. Aus der Veröffentlichung eines Briefwechsels geht laut Heinrich August Winkler hervor, dass Rothfels „beim zweiten Wahlgang der Reichspräsidentenwahl 1932 offenkundig für Hitler gestimmt“ habe. (Die Zeit vom 17.Dezember 2008, 64) ))

Dank eines Stipendiums der „Publikationsstelle Berlin-Dahlem“ konnte Schieder trotzdem im März 1934 mit seiner Habilitation beginnen. (Vgl. Rüsen 1993, 368) Im April 1935 wurde er Leiter der ostpreußischen „Landesstelle für Nachkriegsgeschichte“, die haushaltsrechtlich dem Geheimen Preußischen Staatsarchiv in Berlin unterstellt war. (Vgl. Fahlbusch 1999, 580.) In dem Programm des von Schieder geleiteten Forschungsinstitutes wurde das „Arbeitsprinzip der kämpfenden Wissenschaften“, wie es der Nationalsozialismus vertrat, hervorgehoben. Im Rahmen der „Volksgeschichte“ solle der Kampf um den „Volksboden“, der „Volkstumskampf“ insgesamt im Zentrum der Arbeit stehen. (Wehler 2000b, 317) Im Mai 1937 trat Schieder in die NSDAP ein und wurde zum „Mitarbeiter im Hauptschulungsamt“ ernannt.

Im Herbst 1939 begannen führende Wissenschaftler der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft und der Publikationsstelle Berlin-Dahlem, ihr gesamtes Wissen in einer Denkschrift über „die bevölkerungs- und siedlungspolitische Behandlung Polens zusammenzufassen.“ Das gebildete Gremium bestand aus sechs Personen der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft und Schieder als Vertreter der Publikationsstelle Berlin-Dahlem. Schieder verfasste bis zum 7.10. 1939 eine erste Skizze über „Siedlungs- und Volkstumsfragen in den wiedergewonnenen Ostprovinzen.“ (Ebbinghaus /Roth 1992, 67f.)

Angelika Ebbinghaus und Karl Heinz Roth edierten im Frühjahr 1992 dieses „bevölkerungspolitische“ Geheimgutachten.

Aus dem Gutachten geht hervor, dass Schieder die Deportation mehrerer hunderttausend Polen befürwortet und sich für die „Entjudung Restpolens“ ausgesprochen hatte. (Aly 2000 163) Schieder sprach in seiner Schrift von der „Wiedergutmachung von offenkundigem politischem Unrecht“ der „brutalen Entdeutschungspolitik der Polen, die zu einer beispiellosen Vernichtung und Verdrängung des ansässigen deutschen Volkstums, seines Lebensraums und Besitzes“ geführt habe. (Wehler 2000b, 320) Schieder wollte die „Sicherung deutschen Volksbodens im Osten durch eine geschlossen siedelnde (…) deutsche Bevölkerung“ und die „klare Abgrenzung von polnischem und deutschem Volkstum, die die Gefahren völkischer und rassischer Vermischung vermeidet“. Da dieses Ziel „Bevölkerungsverschiebungen allergrößten Ausmaßes notwendig“ mache, plädierte Schieder für eine „Generalvollmacht“ zur „Enteignung“ und „Ausweisung aller seit 1919 zugewanderten Polen“ sowie zur „Wiedereindeutschung“ durch die „Umsiedlung deutscher Volksgruppen“. Zur „Entjudung Restpolens“ und zum „Aufbau einer gesunden Volksordnung“ seien alle Kräfte zu bündeln. (Ebbinghaus / Roth 1992, 88)

Dieser Entwurf Schieders wurde nach Berlin weitergegeben, wo er dem Auswärtigen Amt, dem „Oberkommando der Wehrmacht“ und der „Deutschen Arbeitsfront“ vorlag. Diese Instanzen waren wohl nicht von der Wichtigkeit des Gutachtens überzeugt, da es nie zur Anwendung kam und zwischen anderen Akten liegen blieb. (Vgl. Wehler 2000b, 320)

Kurze Zeit nach der Erstellung des Gutachtens reichte Schieder seine Habilitationsschrift „Deutscher Geist und ständische Freiheit im Weichsellande. Politische Ideen und politisches Schrifttum in Westpreußen von der Lubliner Teilung bis zu den polnischen Teilungen (1569-1772/93)“ ein, die im folgenden Jahr als Buch erschien. Im Vorwort hieß es, dass das Ziel des Werkes die „Wiederbelebung“ der „deutschen Vergangenheit“ des „Weichsellandes“ war. Das „Weichselland“ bezeichnete er als „deutsche Grenzlandschaft, (…) die jahrhundertelang zwar politisch vom deutschen Reichskörper getrennt war, aber ihm innerlich doch stets zugehörig blieb.“ (zitiert nach Mommsen 2000, 190)

Schieder wurde 1940 zum Dozenten am Historischen Seminar der Universität Königsberg ernannt. In Innsbruck übernahm Schieder im Wintersemester 1941/42 den Lehrstuhl des gerade an die Universität im ehemaligen Königsberg berufenen Kleo Pleyer. (Vgl. Aly 1997, 173.) Im Jahre 1942 erhielt Schieder durch eine „Hausberufung“ den früheren Lehrstuhl von Hans Rothfels. Weiterhin wurde er „Lektor des Amtes für Presse und Propaganda des NS-Dozentenbundes“ und „Lektor der parteiamtlichen Prüfungskommission“. Im folgenden Jahr wurde er zum Dekan der Philosophischen Fakultät im ehemaligen Königsberg gewählt. Noch im selben Jahr sprach er sich in nationalsozialistischer Manier „für das Gefühl für die natürlich-bluthaften Zusammenhänge und Lebensgesetze der Reinhaltung von Rasse und Art“ aus. (Rüsen 1993, 370f.)

Im Dezember 1944 floh er mit seiner Familie kurz vor der Besetzung des ehemaligen Königsbergs durch die Rote Armee nach Bayern. Im März 1945 soll Schieder noch „Durchhaltereden auf der SS-Ordensburg Sonthofen“ gehalten haben. (Aly 1997, 175f.)

Schieders Karriere in der BRD

Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus ordneten die jeweiligen Besatzungsmächte in ihren Zonen „Ordnungs“- und „Reinigungs“-Ausschüsse an, die zu kurzfristigen Entlassungen führten. In einer ersten Phase, die die Zeit von der Besetzung Deutschland bis zum 11. Januar 1946 umfasste, entfernten die Alliierten an den westdeutschen Universitäten diejenigen Historiker aus dem Dienst, die ihre akademische Karriere lediglich der Zugehörigkeit oder geistigen Nähe zur NSDAP verdankten oder an der Entfernung politisch oppositioneller Fachkollegen beteiligt waren. Die Entnazifizierung betraf 24 von 110 der westdeutschen Historiker, von denen ein Teil nach einiger Zeit wieder an die Universitäten zurückkehrte. ((Vgl. Faulenbach 1992, 193. Eine ausführliche Darstellung der Karrieren einzelner Historiker findet sich bei Weber 1984.)) Trotz dieser Maßnahmen beklagt Hermann Lübbe ein „insgesamt eher einverständliches Schweigen, wenn es um die geistige Nähe oder gar persönliche Mittäterschaft der Historiker im Dritten Reich ging.“ (Lübbe 1983, 581) Nach der Restituierung des akademischen Lebens 1946/47 kamen diese „Unbelehrbaren“ zunächst nicht wieder in ihre alten Positionen zurück. (Lübbe 1983, 581) Jedoch konnten sie ohne Probleme neue Anstellungen bei Verlagen und Redaktionen finden. Durch die so genannte „131er“ Gesetzgebung ((Vgl. dazu Frei 1996.)) aus dem Jahre 1951 gelang es den meisten der zunächst nicht wieder eingestellten Historiker – meistens gegen den Willen der jeweiligen Fakultäten – wieder an die Universität zurückzukehren. Insofern kann in der westdeutschen Geschichtswissenschaft durchaus von einer personellen Kontinuität im Hinblick auf den Nationalsozialismus gesprochen werden. Das Fach blieb von weitreichenden Entnazifizierungskampagnen mit personellen Konsequenzen unbehelligt. (Vgl. Schulze 1997, 268) Hans Mommsen stellt fest:

„Die Geschichtswissenschaft bildet indessen keine Ausnahme von der allgemeinen Erscheinung, dass die Nachkriegsjahre in Westdeutschland nur einen insignifikanten Elitenaustausch mit sich brachten. (…) Auch in den Fällen, in denen die Alliierten Berufsverbote verhängten, gelangten die Betroffenen rasch wieder in angestammte oder gleichwertige Positionen.“ (Mommsen 2000 266)

Nach seiner „Entnazifizierung“ ((In welche der fünf Gruppen (Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer, Entlastete) er dabei eingeteilt wurde, ist nicht bekannt. Es ist aber anzunehmen, dass er nicht in die ersten drei Gruppen eingestuft wurde, da er ansonsten nicht den Lehrstuhl in Köln bekommen hätte.)) folgte im Jahre 1947 Schieders Berufung auf den Kölner Neuzeit-Lehrstuhl, nachdem der eigentliche Favorit Hans Rosenberg abgesagt hatte. Von 1962 bis 1964 war Schieder Rektor der Kölner Universität und leitete ab 1965 dort die Forschungsabteilung des Historischen Seminars. Zugleich war er Präsident der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und zeitweilig Präsident der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Seit 1957 gab er die „Historische Zeitschrift“ heraus und war von 1967 bis 1972 Vorsitzender des Historikerverbandes. Schieder arbeitete zur Geschichte des Liberalismus und Nationalismus sowie zur Erforschung europäischer „Nationalbewegungen“ und „Volksgruppen“ vom 18. bis 20. Jahrhundert. (Vgl. Gall 1985, 13f.)

Schieder verfolgte bei seiner Einordnung des NS-Regimes in die deutsche Geschichte systematisch eine Verharmlosung des Nationalsozialismus. Er ging von einem „Parallelismus zum sowjetischen System“ aus, was in der Frage gipfelte: „In welchem Umfange ist die nationalsozialistische Herrschaftstechnik, vor allem ihr Terrorismus, direkt von kommunistisch-sowjetischen Vorbildern und Erfahrungen angeregt?“ (Dann / Wehler (Hg.) 1991, 265) Diese Interpretation der NS-Herrschaft sollte später vor allem bei Ernst Nolte populär werden, die dann im „Historikerstreit“ 1985 kontrovers diskutiert wurde. Zu seiner Vergangenheit in der NS-Zeit äußerte sich Schieder trotz wiederholter drängender Fragen nicht. Wehler schreibt:

„Über eins schwieg Schieder, trotz vielfachen Drängens bei mancher informellen Gelegenheit, buchstäblich eisern: zu jeder Frage nach den dreißiger und vierziger Jahren, insbesondere zur ‚Königsberger Zeit’ von 1934 bis 1944. Keinen Satz ließ er sich dazu entlocken.“ (Wehler 2000b, 316)

Diskussion über Schieders Rolle im Nationalsozialismus

Eine breitere Debatte über die Rolle von Historikern wie Theodor Schieder und Werner Conze in der Zeit des Nationalsozialismus fand auf dem Historikertag 1998 in Frankfurt am Main statt. In seiner zusammenfassenden Analyse über das Wirken von Schieder und Conze bemerkt Götz Aly:

„Beide (Schieder und Conze, M.L.) haben auf ihre Weise und professionell – als gut ausgebildete Historiker eben – am Menschheitsverbrechen Holocaust mitgewirkt. Schieder propagierte den Krieg und die Vorstellung von der rassisch definierten Nation; er plädierte für die gewaltsame Germanisierung immer größerer eroberter Regionen und schrieb einen Teil seiner Texte ausschließlich für den exekutiven Gebrauch. Er und Conze qualifizierten die Juden als Störfaktoren, Schmarotzer und gefährliche innere Feinde; beide machten klar, dass ihre Diskriminierung und Ghettoisierung beispielsweise von Teilen der weißrussischen Bevölkerung als positive Maßnahme angesehen werde; beide schlugen vor, staatlich gesteuerte Bevölkerungsverschiebungen oder Massenvertreibungen zu Lasten der Juden ins Werk zu setzen und die jüdischen Minderheiten deshalb aus den betreffenden Gebieten vollständig zu entfernen.“ (Aly 2000, 176)

Hans Mommsen sieht bei Schieder eine „Affinität zum Nationalsozialismus“:

„In der Debatte ist wiederholt der Begriff einer ‚Affinität zum Nationalsozialismus’ eingeführt worden, um die Position der Vertreter der Ostforschung zu charakterisieren. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass eine im Einzelfall unterschiedlich weit reichende Übereinstimmung mit den Zielsetzungen der NSDAP vorgelegen habe, aber die Betreffenden nicht als Nationalsozialisten im eigentlichen Sinne verstanden werden könnten.“ (Mommsen 2000, 270)

Jürgen Kocka gibt zu bedenken, dass die Historiker im NS-Staat zur inneren Legitimierung des NS-Systems entscheidend beitrugen:

„Am wichtigsten aber dürfte unter den ‚Leistungen’ der Historiker für den Nationalsozialismus gewesen sein, dass viele von ihnen in den Jahren zuvor durch ihre Lehre, mit ihren öffentlichen Äußerungen und in ihren persönlichen Verkehrskreisen eine intellektuelle Grundstimmung förderten, die die dafür empfänglichen jungen Bildungsbürger in Distanz zu liberalen Prinzipien sozialisierte, sie Grundsätzen der Humanität entfremdete und auf jenen teils utopischen, teils nihilistischen Machbarkeitswahn vorbereitete, der für die nationalsozialistische Eroberungs-, Deportationsund Vernichtungspolitik im 2. Weltkrieg kennzeichnend war.“ (Kocka 2000, 345)

Das Urteil von Hans-Ulrich Wehler über Schieder fällt dagegen wesentlich moderater aus:

„Geht man also auch bei Schieder von einem lebensgeschichtlich motivierten Lernprozeß aus, wird man das durchaus politische wissenschaftliche Management und die weit ausgreifende Mitwirkung in zahlreichen wissenschaftlichen Institutionen nicht allein auf Machtehrgeiz reduzieren. Vielmehr äußerte sich darin doch auch eine bewusste politische Entscheidung, am Wiederaufbau von Wissenschaft und von glaubwürdiger Politik in der Bundesrepublik mitzuwirken. (…) Insgesamt läuft mein Urteil über Schieder und Conze in den 40 Jahren nach 1945 darauf hinaus, ihnen sowohl Lernwilligkeit als auch reflexive Lernfähigkeit (…) zuzusprechen. Werden dagegen die Lernprozesse dieser Jahre nicht angemessen anerkannt, lässt sich ein gerechtes Urteil kaum fällen. Nachdem sich die Kritiker bisher auf die Zeit bis 1945 beschränkt haben, ist es an der Zeit, die Parameter der Diskussion neu und die Lebensspanne nach 1945 in die Kontroverse mit einzubeziehen.“ (Wehler 2000b, 334f.)

Wehlers Aussagen über Schieder sind allerdings mit Vorsicht zu betrachten. Wehlers Aufstieg zu einem der bekanntesten Historiker in der BRD wäre wahrscheinlich gegen den Willen Schieders nicht zustande gekommen. Wehlers berufliche Biographie ist eng mit dem Historischen Seminar der Universität Köln und damit auch mit dessen Leiter Wolfgang Schieder verbunden. ((Vgl. dazu die biographischen Angaben Wehlers in Hohls / Jarausch (Hg.) 2000, 244-248.))

Wehler studierte Geschichte, Soziologie und Ökonomie unter anderem an den Universitäten Köln und Bonn. 1960 promovierte er bei Theodor Schieder mit der Arbeit „Sozialdemokratie und Nationalstaat (1840–1914)“ und war anschließend Assistent am Historischen Seminar in Köln. Im Jahre 1968 habilitierte er über das Thema „Bismarck und der Imperialismus“ an der Kölner Universität, wo er noch bis 1970 als Privatdozent arbeitete.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass Theodor Schieder in den Jahren bis 1945 in seiner Rolle als Historiker mit dazu beigetragen hat, die Reputation sowie die Legitimation des NS-Staates zu fördern und die nationalsozialistischen Ziele einer Großraumpolitik und den „Volkstumskampf“ in „wissenschaftlicher“ Weise als ideologischer Wegbereiter zu rechtfertigen. Als einer der Protagonisten der westdeutschen Geschichtswissenschaft unterließ er die Aufarbeitung seiner eigenen Geschichte im Nationalsozialismus.

Die erst spät begonnene Aufarbeitung der Verstrickungen von Historikern in die Praktiken des nationalsozialistischen Deutschlands muss ohne Ansehen der Person fortgesetzt und Versuchen der Bagatelisierung, Relativierung oder einer erneuten Verdrängung mit aller Entschiedenheit entgegengetreten werden.

Literatur

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Aly, G.: „Dass uns Blut zu Gold werde“. Theodor Schieder, Propagandist des Dritten Reiches, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte, 1998, 13-27

Aly, G.: Theodor Schieder, Werner Conze oder Die Vorstufen der physischen Vernichtung, in: Schulze / Oexle (Hg.) 2000, 163-182

Dann, O. / Wehler, H.-U. (Hg.): Theodor Schieder: Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa, 2. Auflage, Göttingen 1991

Ebbinghaus, A. / Roth, K. H.: Vorläufer des Generalplans Ost. Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939. In: 1999. Zeitschrift für die Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 7 (1992), Heft 1, 62–94

Fahlbusch, M.: Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931-1945, Baden- Baden 1999

Faulenbach, B.: Historische Tradition und politische Neuorientierung. Zur Geschichtswissenschaft nach der „deutschen Katastrophe“, in: Pehle, W.H. / Sillem, P. (Hg.): Wissenschaft im geteilten Deutschland. Restauration oder Neubeginn nach 1945, Frankfurt/Main 1992, 191-204

Frei, N.: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996

Gall, L.: Theodor Schieder, in: Historische Zeitschrift 241 (1985), 1-25

Gall, L.: „Aber das sehen Sie mir nach, wenn ich die Rollen des Historikers und die des Staatsanwalts auch heute noch als die am stärksten auseinanderliegenden ansehe.“ In: Hohls / Jarausch (Hg.) 2000, 300-318

Haar, I.: „Revisionistische“ Historiker und Jugendbewegung: Das Königsberger Beispiel, in: Schöttler, P. (Hg.): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945, Frankfurt/ Main 1997, 52-103

Hohls, R. / Jarausch, K.H. (Hg.) Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus, Stuttgart / München 2000

Hürter, J. / Woller, H. (Hg.): Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte, München 2005

Kellershohn, H.: Im „Dienst der nationalsozialistischen Revolution“-Die deutsche Gildenschaft und ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, Band 13/1999-2004, Schwalbach/Taunus 2004, 255-293

Klee, E.: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, 2.Auflage, Frankfurt/Main 2005

Kocka, J.: Zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik. Ein Kommentar, in: Schulze / Oexle (Hg.) 2000, 340-357

Lübbe, H.: Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein, in: Historische Zeitschrift 236 (1983), 579-599

Mommsen, H.: Der faustische Pakt der Ostforschung mit dem NS-Regime. Anmerkungen zur Historikerdebatte., in: Schulze / Oexle (Hg.) 2000, 265-273

Rüsen, J.: Kontinuität, Innovation und Reflexion im späten Historismus: Theodor Schieder in: Rüsen, J.: Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur. Frankfurt/M. 1993, 357–397

Schieder, T.: Die kleindeutsche Partei in Bayern in den Kämpfen um die nationale Einheit 1863-1871, München 1936

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Schulze, W. / Oexle, O.G. (Hg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, 3. Auflage, Frankfurt/Main 2000

Stürmer, M.: „Man muß die Weltgechichte nicht immer mitden Nazis beginnen lassen.“ In: Hohls / Jarausch (Hg.) 2000, 358-368

Weber, W.: Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zu Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800-1970, Frankfurt/M./ Bern/New York 1984

Wehler, H.-U.: „Historiker sollen auch politisch zu den Positionen stehen, die sie in der Wissenschaft vertreten.“ In: Hohls / Jarausch (Hg.) 2000a, 240-266

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Wehler, H.-U.: Eine lebhafte Kampfsituation. Ein Gespräch mit Manfred Hettling und Cornelius Torp, München 2006