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Absage an die Politik der Angst

Interview zum Manifest für ein anderes Europa ((https://www.diss-duisburg.de/2010/12/leben-in-vielfalt/)) mit Teun A. van Dijk (Barcelona), Mitglied von Forum Europa und prominenter Vertreter einer Critical Discourse Analysis (CDA). Erschienen in DISS-Journal 19 (2010)

DISS: Teun, Du bist einer der Initiatorinnen des Manifests für ein anderes Europa. Mich erinnert diese Initiative an die teilweise durchaus gelungenen Aufrufe des „Club of Rome“. Worin unterscheidet sich Euer Anliegen davon, inhaltlich und politisch?

Teun A. van Dijk: Das Manifest ist ein Ergebnis der Diskussion einer Gruppe von Leuten, die sich Forum Europa nennt und von Pep Subirós (Barcelona) angeführt wird. ((Pep Subirós, Schriftsteller und Philosoph und ehemaliger Professor an der Universitat Autonoma de Barcelona.)) Der größte Teil des Textes wurde von Ash Amin (Durham, UK) formuliert und enthält zudem Beiträge einiger weiterer Autorinnen. Auf unserer Webseite, die zurzeit noch im Entstehen begriffen ist (www.forum-europa.org) findet man weitere Informationen über diese Gruppe „besorgter Bürgerinnen Europas“, wie wir uns vorerst genannt haben. Wir alle, jeder auf seinem Arbeitsgebiet, wurden durch die ständig zunehmende „Politik der Angst“ motiviert, durch sich ausbreitenden Rassismus und die Verletzung der Menschenrechte in Europa. Der implizite Bezug auf die Ziele des „Club of Rome“ in bezug auf die Natur ist keineswegs zufällig, sondern absichtsvoll. Bei einer früheren Diskussion mit der italienischen Soziologin Laura Balbo, ehemalige Ministerin der Unabhängigen Linken und Autorin einer Reihe von Büchern zum Thema Rassismus, entstand die Idee, etwas gegen diese ideologische Gefahr und gegen die Vergiftung der Köpfe und die in Europa alltäglichen Praxen, die sich gegen Einwanderinnen, Flüchtlinge und Minderheiten richten, zu unternehmen. Für unseren “Club of Barcelona” – dem auch der türkisch-norwegische Filmemacher Nefise Özkal Lorentzen angehört – war der Aufruf des „Club of Rome“ vor einem halben Jahrhundert für unser globales Denken über die Gefahren der Umweltzerstörung sehr wichtig.

Als Kritischer Diskursanalytiker und nach einigen Büchern über Diskurs und Rassismus und über die Rolle der „symbolischen Eliten“, die den öffentlichen Diskurs bestimmen (Politikerinnen, Journalistinnen, Professorinnen usw.), war ich von den fatalen Effekten der Hass-Diskurse für das Bewusstsein der Menschen überzeugt, mit denen „die Anderen“ für die mannigfachen Probleme Europas verantwortlich gemacht werden. Wie bei der manchmal langsamen und kaum erkennbaren Vergiftung der Umwelt so vergiftet auch jeder Negativ-Diskurs über Einwanderer langsam aber sicher die Köpfe der Menschen mit rassistischen, nationalistischen, islamfeindlichen oder eurozentristischen Haltungen und Ideologien, mag dies ein Wort wie „Illegale“ sein, das ein Minister gebraucht, und damit Menschen meint, die keine Papiere bekommen haben, oder Darstellungen in den Medien, die Einwanderer mit Differenz, Abweichung oder Bedrohung assoziieren. Diese Ideologien bilden bei der Masse der Bevölkerung die Grundlage für diskriminierendes Handeln und Verhalten, für Ausgrenzung, Problematisierung und Marginalisierung von Anderen. Wir sehen es als unsere Aufgabe an, eine breite europäische Debatte über diese gefährliche Entwicklung anzuregen, die durch die globale Wirtschaftskrise noch weiter verschärft wird.

Der Text betont, dass er nicht ideologisch und parteiisch sein will. Aber er tritt doch für unterdrückte und diskriminierte Menschen ein und nimmt Partei für eine gerechte Gesellschaft?

Es besteht kein Zweifel daran, dass die allgemeine Ideologie, die hinter diesem Manifest steht, progressiv und solidarisch mit unterdrückten Gruppen ist und kritisch gegenüber solchen Gruppen, Parteien oder Organisationen, die ihre Macht missbrauchen. Jedoch handelt es sich nicht um einen Text, der in erster Linie politische Parteien unterstützt oder attackiert. Es stimmt, dass viele der Ideologien und sozialen Praxen, die wir kritisieren, sowohl von Rechten wie Linken geteilt werden, obwohl sie eindeutig am extremsten und sichtbarsten bei der Extremen Rechten zu finden sind. Das Problem ist, dass die gegenwärtigen Politiken des Mainstream, etwa zu Einwanderung, Sicherheit, Terrorismus, den politischen Ideen der extremen Rechte von vor zwei Jahrzehnten sehr nahe gekommen sind. Natürlich sind Menschen wie Le Pen, Haider, Wilders, Fortuyn, Bossi und ihre Parteien in verschiedenen Ländern ein großes Problem und eine Schande für die demokratische und tolerante Reputation, die Europa nach dem Krieg erlangt haben mag. Aber es sollte nicht vergessen werden, erstens, dass die Ideologien der heutigen Rechten an eine sehr lange Tradition des europäischen Rassismus und Kolonialismus anknüpfen können, die in den letzten Jahrzehnten nicht mehr ohne weiteres als korrekt gelten. Zweitens, selbst wenn rechte Parteien bei Wahlen gelegentlich überraschend er folgreich waren, repräsentieren sie selten mehr als 20% der Wähler. Das eigentliche Problem ist, dass die Parteien der Mitte, die um die Stimmen ökonomisch frustrierter oder ängstlicher Bürger kämpfen, angefangen haben, viele dieser völkisch-nationalistischen Ideen und Argumente zu kopieren.

Und die Situation ist gefährlich, wenn es kaum irgendeine Opposition und kaum Widerspruch im öffentlichen Diskurs dazu gibt und diese Ideen zunehmend als selbstverständlich hingenommen werden und zur herrschenden Ideologie in der Gesellschaft werden – wie dies vor 80 Jahren in Deutschland der Fall war und danach überall in Europa. Es ist deshalb absolut nötig, dass wir eine breite Bewegung und einen Diskurs entwickeln, der diese Art von Text und Rede kritisch beleuchtet, diese Haltungen, diese Ideologien, diese sozialen Praxen und diese offiziellen Politiken. Das ist es, was das Forum anregen möchte. Damit die Menschen so über die Gefahren eines verschmutzten verdorbenen kollektiven Bewusstseins ebenso aufgeklärt werden wie sie es über eine verschmutzte Umwelt sind. Wir sollten inzwischen aus der europäischen Geschichte bis zum Holocaust und zu ethnischer „Säuberung“ im ehemaligen Jugoslawien gelernt haben, dass ethnischer Hass (viele) Menschen töten kann.

Mich erinnert der Text an Ausführungen von Barack Obama, insbesondere während seines Wahlkampfes um die Präsidentschaft in den USA. Kann es sein, dass sein „Yes we can“ Euch ein wenig als Vorlage gedient hat?

Es mag sein, dass der eine oder andere Autor an Obamas Reden gedacht hat, aber in unseren Gruppendiskussionen über das Manifest haben wir uns nicht auf seine Ideen bezogen. Doch ganz abgesehen von konkreten Anregeungen: Es besteht kein Zweifel daran, dass sein expliziter Widerstand gegen die Gedanken und den Diskurs von Bush & Co mit unserer Kritik am Neoliberalismus und an einer Politik der Angst übereinstimmt, die einen Großteil der Politik in Europa dominiert.

Obama kämpft als Präsident einen schweren Kampf gegen reaktionäre Kräfte in den USA. Da hat ihm die Verleihung des Friedensnobelpreises auch nicht viel geholfen. Aber immerhin versucht er, einige seiner Ideen in konkrete Politik umzusetzen. Ist das „Forum“ dagegen nur ein ethischer Appell, oder seht Ihr Möglichkeiten, dass daraus auch so etwas wie konkrete Politik werden kann?

Es stimmt, die Werte, die wir verteidigen, sind, ganz allgemein gesagt, in erster Linie ethisch, doch sie können als Grundlage für sehr konkrete politische Aktionen dienen und als eine Leitlinie für eine öffentliche Debatte über die Zukunft Europas. Klar, eine solche Debatte muss übersetzt werden in eine generelle Strategie für praktische Politik. Es würde nichts nutzen, den Leuten zu sagen: Hört auf mit Eurer Angst, hört auf mit Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung! Es sollte klargemacht werden, dass ein alternatives Europa nicht nur möglich ist, sondern richtungsweisend für ein gutes Leben von uns allen. Wir sollten versuchen, die öffentliche Meinung davon zu überzeugen, dass Verschiedenheit bereits tägliche Realität in nahezu allen westlichen europäischen Ländern ist, besonders in den Städten, und dass Zusammenleben, friedlich und demokratisch, nur möglich ist, wenn wir es als einen positiven Lebens-Wert in der Zukunft akzeptieren.

Euer Appell richtet sich in allererster Linie an – wenn ich das richtig sehe – links-demokratische Eliten, Wissenschaftler, Politiker, Künstler. Ohne die breitere Bevölkerung lässt sich aber politisch-praktisch nichts durchsetzen. Wie glaubt Ihr diese erreichen zu können?

Wie ich bereits andeutete, werden die vorherrschenden Ideologien durch die symbolischen Eliten, die die politischen, medialen und Erziehungsdiskurse kontrollieren, vorgegeben. Ebenso wie diese Eliten für das gegenwärtige Klima der Angst verantwortlich sind, sollten diese bedenken, dass solche diskursiven Praktiken weitreichende Konsequenzen haben, die nicht mehr unter Kontrolle gehalten werden können, wie dies in der europäischen Vergangenheit zu sehen war. Sie sollten dazu überredet werden, auf eine Weise zu sprechen und zu schreiben, die die tägliche Politik und die Visionen der Zukunft so formulieren, dass sie uns allen nützen werden. Die gegenwärtige Rhetorik ist die eines alten, rassistischen und eurozentrischen Europas in einer globalisierten Welt, in der sich die Gewichte vom Norden nach dem Süden und vom Westen nach dem Osten verschieben. Andere unten und draußen zu halten, das sind Politiken und alltägliche Praxen, die letzten Endes Europa und daher uns alle, auch die einfachen Leute, Geschäft und Job kosten werden. Empirische Forschung ebenso wie alltägliche Erfahrung zu unterschiedlichen Gesellschaften haben gezeigt, dass diejenigen Länder am besten fahren, die ethnisch vielfältig sind und das Beste aus allen möglichen Kulturen und das Wissen aller möglichen Völker in sich aufnehmen. Genau das haben wir gelernt, wenn auch nur sehr langsam, hinsichtlich der Integration von Frauen in ursprünglich männlich dominierte Gesellschaften.

Eine abschließende Frage, die sich nicht direkt auf Euer Manifest bezieht. Wie beurteilst Du die Lage in Afghanistan? Wir meinen, dass sich die NATO in eine Sackgasse manövriert hat, die man auch als „nicht zu gewinnenden Krieg“ bezeichnen kann. Gelegentlich wird dieser Krieg auch als „Terroristen-Rekrutierungsaktion“

bezeichnet. Deine Einschätzung würde mich sehr interessieren! Ich muss zugeben, dass ich keine explizite, gut begründete Position zu Afghanistan habe, abgesehen von meiner alten pazifistischen Haltung, dass jedwede militärische Lösung von Konflikten zwangsläufig kontraproduktiv und die Quelle weiterer Gewalt ist. Wir leben in einer Welt, die manchmal „post-modern“ genannt wird, während ich unsere heutige Welt noch als prä-modern ansehe, eine Welt, in der Waffen und Armeen und folglich offizielle Gewalt als „natürlicher“ Bestandteil unseres Lebens erscheinen – anstatt diskursiver Lösung von Konflikten durch Verhandlungen. Meiner Meinung nach sollte das Militärische abdanken oder verlernt werden: die Waffen gehören ins Museum. Ganz konkret: Bombardierungen und andere Militäraktionen in Afghanistan verschrecken die Bevölkerung, die das erste Opfer ist. Letzten Endes kann das afghanische Volk die Menschen nur dann gewinnen und vereinen, wenn die tiefen sozialen Konflikte, die das Land Jahrzehnte und länger dominiert haben, gelöst werden. Internationale Solidarität und Hilfe werden dabei notwendig sein, doch eine militärische Lösung, wie dies auch die Russen erfahren mussten, ist absolut kontraproduktiv.

Dazu noch eine kurze Bemerkung: Ich wundere mich etwas darüber, dass Kriege nur eine Marginalie in Eurem Manifest darstellen, obwohl sie ja zurzeit leider hochaktuell sind.

Ja, sehr richtig. Das ist ein Aspekt, der ignoriert worden ist und den ich persönlich sehr viel stärker betonen möchte, wie du vorgeschlagen hast. Doch Afghanistan, Irak und Pakistan sind typischerweise Kriege außerhalb Europas und daher kaum von Bedeutung für die meisten Europäer – die nicht Opfer dieser Kriege sind, von Kriegen, die, wie früher, auch immer, von „westlichen“ Armeen in anderen (östlichen, südlichen) Ländern geführt werden.

Das Interview führte Siegfried Jäger.