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Transparenz und Umgestaltung

Die rechtliche Autonomie der katholischen Kirche ist unhaltbar geworden. Von Jobst Paul. Erschienen in DISS-Journal 19 (2010)

In seiner Karfreitagsansprache (am 2. April 2010 im Petersdom) meinte der ‚Prediger des Päpstlichen Hauses‘, P. Raniero Cantalamessa, der Zeitpunkt sei gekommen, die ‚Vergebungsbitte für kollektive Schuld‘ auszusprechen – nicht wegen „der Gewalt gegen Kinder, mit der sich leider auch Elemente des Klerus befleckt“ hätten, denn davon sei „draußen genug die Rede“. Vielmehr ginge es um die „Gewalt gegen die Frauen“, für die die männliche „Hälfte der Menschheit“ um Vergebung bitten solle. In einer weiteren überraschenden Wendung nahm Cantalamessa für die Kirche in Anspruch, in der Nachfolge Christi die Gewalt überwunden zu haben: In ihr sei eine neue „Art des Siegs“ geboren worden: nicht „Opfer zu fordern, sondern sich selbst zum Opfer zu machen.“ ((http://www.zenit.org/rssgerman-20227))

Diese Gelegenheit nahm der Prediger dann auch wahr: Mit Blick auf den institutionellen Umgang der Kirche mit Missbrauchsfällen in der Vergangenheit zitierte Cantalamessa den Brief eines ungenannten ‚jüdischen Freundes‘, in dem dieser „den brutalen und konzentrischen Angriff auf die Kirche, den Papst und alle Gläubigen seitens der ganzen Welt“ mit den „schändlichsten Aspekte(n) des Antisemitismus“ gleichsetzte.

Roms Oberrabbiner Riccardo Di Segni kritisierte den Antisemitismus-Vergleich als „geschmacklos“. Gerade der Karfreitag sei „der unheilvollste Tag in der Geschichte der Beziehungen zwischen Christen und Juden“. ((Un paragone improprio e una caduta di stile. La Stampa, 3. April 2010. http://www.lastampa.it/redazione/cmsSezioni/ cronache/201004articoli/53796girata.asp)) Peter Isely, Sprecher von Survivor‘s Network of those Abused by Priests (SNAP), meinte: „Da sitzen sie im päpstlichen Palast und fühlen sich gerade etwas unwohl – und sie wollen sich nun vorkommen, als würden sie zusammengetrieben oder aufgereiht und in Viehwagen nach Auschwitz geschickt?“ ((http://news.bbc.co.uk/2/hi/8601084.stm))

Während sich Cantalamessa am Ostersonntag betroffen entschuldigte, versicherte Kardinal Angelo Sodano, Dekan des Kardinalskollegiums, am selben Tag dem Papst, das Volk Gottes lasse „sich nicht vom Geschwätz des Augenblicks und nicht von den Prüfungen beeindrucken (…), die zuweilen über die Gemeinschaft der Gläubigen“ hereinbrächen. Sichtlich gerührt umarmte der Papst den Dekan. ((http://www.kath.net/detail.php?id=26275))

Nicht nur der Rom-Korrespondent der ARD, Gregor Hoppe, fragte am 5. April einigermaßen fassungslos, warum sich Benedikt XVI. zu diesem schlimmen Schauspiel hergegeben habe und zu den deutschen Missbrauchsfällen schwieg, während er zuvor zu ähnlichen Skandalen in Irland und in den USA offene Worte gefunden hatte.

Der Grund könnte in der Furcht Roms liegen, eine zu schnelle Anerkennung der jetzigen innerkirchlichen Protestbewegung insbesondere aus Deutschland müsse zu institutionellen Verwerfungen in der ganzen Weltkirche führen. Die Furcht ist nicht unbegründet, angesichts des Spannungspotentials, das sich seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil aufgebaut hat, dessen Anlauf zur kirchlichen Demokratisierung nachfolgend reaktionär pariert wurde. Mit dem Aufbrechen der Missbrauchsskandale könnte in der Tat dem kirchlichen System rechtlicher Autonomie und dem entsprechenden Selbstverständnis ein heftiger Stoß versetzt worden sein. Oder anders: Was Johannes Paul II. einst als Sprengsatz gegen den Ostblock wandte, nämlich die Forderung nach Transparenz und Demokratisierung, und was dort als Glasnost und Perestroika fortwirkte, liegt nun auf den Stufen des Petersdoms.

Hans Küng ((http//www.nzz.ch/nachrichten/international/ fuenf_jahre_benedikt_xvi_ein_historischer_vertrauensverlust_1.5 448429.html)) und Uta Ranke-Heinemann ((http//www.focus.de/politik/deutschland/tid-17295/uta-ranke-heinemann-der-papst-weintkrokodilstraenen_aid_481510.html)) haben unabhängig voneinander nachgezeichnet, in welchem Maß auch Benedikt XVI. – als zentraler Akteur der römischen Glaubenskongregation (1981-2005) – für dieses System steht, dessen anachronistische Natur nun vollends offenbar wird. Danach verfügte ein Schreiben von Kardinal Ottaviani von 1962 an die Bischöfe (Crimen Sollicitationis) und danach ein ähnliches Schreiben Ratzingers vom 18. Mai 2001 (Epistula de delictis gravioribus), dass Missbrauchsfälle unter das Secretum Pontificium, also in die „ausschließliche Kompetenz des Vatikans“, zu stellen seien. Dies führte – so Ranke-Heinemann, „zu einer ständigen Versetzung“ der pädophilen Priester und damit zu einer gewohnheitsmäßigen Missachtung des Rechts. Die Anweisung hätten insbesondere die irischen Bischöfe befolgt.

Der Sachverhalt wurde mit Blick auf Deutschland durch einen Bericht bestätigt, den das bayerische Justizministerium dem Rechtsausschuss des bayerischen Landtags vorlegte. Nach Helmut Seitz, Abteilungsleiter Strafrecht des Ministeriums, seien manche Verdachtsfälle innerkirchlich seit langem bekannt gewesen, aber nicht angezeigt und stattdessen „intern geregelt“ worden. Auffällig gewordene Geistliche wurden einfach an andere Orte versetzt. ((http://www.br-online.de/aktuell/kirche-undmissbrauch-DID1268906638345/kirche-missbrauch-landtag-ID1273139636242.xml))

Mit dem Titel Fünf Jahre Benedikt XVI. – ein historischer Vertrauensverlust richtete Hans Küng am 15. April 2010 einen Offenen Brief an die deutschen Bischöfe, in dem der Missbrauchsskandal allerdings nurmehr den letzten Punkt eines langen Sündenregisters bildet. So habe Benedikt XVI. in den vergangenen fünf Jahren nicht nur die Annäherung der christlichen Konfessionen und der Weltreligionen hintertrieben, sondern die Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils relativiert und „gegen ihren Geist“ interpretiert. Die Stichworte ‚Karfreitagsliturgie‘ und ‚Pius-Brüder‘ firmieren in diesem Zusammenhang nur ‚unter anderem‘. Der Papst habe „durch Ernennung antikonziliarer Chefbeamter (Staatssekretariat, Liturgiekongregation u. a.) und reaktionärer Bischöfe in aller Welt die antikonziliaren Kräfte in der Kirche gestärkt“. Man versuche in Rom durch „erneute barocke Prachtentfaltung und medienwirksame Manifestationen“ eine starke Kirche mit einem absolutistischen ‚Stellvertreter Christi‘ zu demonstrieren, „der legislative, exekutive und judikative Gewalt in seiner Hand vereint“. Die Kollegialität von Papst und den Bischöfen der Weltkirche sei zur Autokratie und die Bischöfe zu Statisten geworden.

Küng ruft daher die deutschen Bischöfe – „in Gemeinschaft mit den anderen Bischöfen, den Priestern und dem Kirchenvolk, Männern und Frauen“ – zum selbstständigen Handeln auf, z. B. zum verabredeten Tolerieren verheirateter Priester oder zur Einberufung eines Reformkonzils oder einer repräsentativen Bischofsversammlung. Ähnlich äußert sich der renommierte Moraltheologe Dietmar Mieth: Es sei sinnlos, auf Reformen zu warten, vielmehr müsse die Kirche als Ganzes durch Ungehorsam gegenüber dem Vatikan Fakten schaffen. Der Pflichtzölibat gehöre abgeschafft, Frauen müssten zum Priesteramt zugelassen werden.

„Wenn sich morgen fünf Bischöfe zusammentäten, um verheiratete Männer zu Priestern zu weihen, würde überhaupt nichts passieren. Im Gegenteil: Der Papst würde ihnen sogar nachlaufen.“ ((http://www.swp.de/ulm/lokales/ulm_neu_ulm/art4329,474934))

Tiefgreifende Reformen „weit über das Missbrauchsthema hinaus“ fordert auch Alois Glück, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) und Co-Präsident des Münchner Ökumenischen Kirchentages vom Mai 2010 ((http://www.welt.de/politik/deutschland/article7273311/Alois-Glueck-Kirche-steht-an-einem-Scheideweg.html)). Die Kirche könne „nicht über staatlichen Strafgesetzen stehen“. Bisher glaubten viele, die Kirche müsse „solche Dinge zu ihrem eigenen Schutz intern regeln und den Staat außen vor halten“. Stattdessen müssten die Opfer im Mittelpunkt stehen, nicht ein „falsch verstandener Schutz der Institution“ ((Alpha-Forum des Bayerischen Rundfunks am 10. Mai 2010)).

Noch am 23. Februar 2010 hantierte der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, mit einem Ultimatum: Er sprach von einer „schwerwiegende(n) Attacke auf die katholische Kirche“, als Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger kritisierte, die Kirche arbeite bei Verdachtsfällen mit den Strafverfolgungsbehörden nicht konstruktiv zusammen ((http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,679836,00.html)). Erst im April kam es zur Verständigung: Zollitsch musste die bisherige kirchliche Position räumen und stimmte nun zu, stets müssten die Opfer im Mittelpunkt stehen und die Kirche müsse bei Missbrauchsverdacht staatliche Behörden einschalten. ((http://www.abendblatt.de/politik/article1459738/Leutheusser-Schnarrenberger-und-Zollitsch-legen-Streit-bei.html))

Von ganz oben, auf seinem Flug nach Portugal zur Marienwallfahrtstätte Fátima am 12. Mai 2010, bestätigte Benedikt XVI. die paradigmatische Unterwerfung der Kirche unter irdisches Recht: „Die Vergebung ersetzt nicht die notwendige Gerechtigkeit“ ((http://www.welt.de/die-welt/politik/article7591798/Papst-Benedikt-prangert-sexuellen-Missbrauch-an.html)). Der Fall Walter Mixa brachte die deutsche Bischofskonferenz allerdings in noch weitergehenden Zugzwang: Mit dem ungewöhnlich harten Vorgehen durch Zollitsch und den Münchner Erzbischof Reinhard Marx ((Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 25. April 2010, S. 3, und vom 2. Mai 2010, S.10)) gegen Mixa gab es eine weitere Zäsur.

Von diesen Schritten in die Richtung einer dezentralen Verantwortungskultur in der Weltkirche gibt es wohl keinen Weg zurück. Dass in der jetzigen historischen Schieflage der Kirche („wie zuletzt zu Luthers Zeiten“ ((http://www.welt.de/debatte/kommentare/article7533969/Mixa-Krise-ist-mit-dem-Ruecktritt-nicht ausgestanden.html)) ) die entscheidenden Impulse gegen die Restaurationspolitik des ersten deutschen Papstes aus Deutschland kommen, hat den deutschen Katholizismus nun doch in die Rolle des Vorreiters gehievt.