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Der Kollaps der SPD, das Beben der Normalität und die neue Lage

Von Jürgen Link. Erschienen in DISS-Journal 18 (2009)

Um es im Kollektivsymbol des medizinischen Körpers auszudrücken: Die SPD hat einen „Kollaps“ erlitten. Wobei SPD meint: ihre Rolle als (hegemoniale) „Volkspartei der linken Mitte“ seit dem Godesberger Programm ist kollabiert. Das wiederum bedeutet die größte Denormalisierung des politischen Systems der Bundesrepublik seit Godesberg.

Das zeigt sich daran, dass die Sieger sichtlich fast mehr über den Kollaps der SPD entsetzt sind, als sie sich über ihren Triumph freuen. Schon propagieren mehrere „Stimmen der öffentlichen Meinung“, die bis gestern noch kräftig an der Verteufelung der Linkspartei als angeblich „extremistisch“ mitgestrickt haben, darunter ein in der Wolle gefärbter neoliberaler Haudegen wie Ulrich Reitz von der WAZ, als neue Perspektive eine „Wiedervereinigung“ von SPD und Linkspartei – natürlich unter den Auspizien eines (rein symbolischen) „Linksrucks“ der Rest-SPD (von „Münte“ zu „Wowi“, Gabriel, Nahles o.ä.). Ob Lafontaine ein derartiges Ziel von Anfang an verfolgt hat und noch immer verfolgt, sei dahingestellt. Abgesehen davon, dass man einem Politiker wie Lafontaine, der bewiesen hat, dass er nicht nur um Posten und Macht pokert und der von den alten Stasi-Seilschaften der PDS wie André Brie (groteskerweise) als „linksextrem“ bekämpft wird, nicht a priori die Bereitschaft zum schwärzesten Verrat unterstellen sollte – abgesehen davon wird die Frage, ob es künftig wieder eine einheitliche hegemoniale Linke- Mitte-Volkspartei SPD geben kann, nicht in erster Linie von taktischen Kalkülen großer Männer (und Weiber) entschieden, sondern auch vom Prozess der Kapitalakkumulation und der kapitalistischen Megakrise.

Die bittere Wahrheit, die doch ein Publizist wie Reitz wissen sollte, ist: Das deutsche Kapital, das unter dem selbstauferlegten Zwang von zweistelligen Profitraten steht und keine Systemkonkurrenz mehr fürchten muss, hat kein Geld mehr übrig für „sozialen Klimbim“. Das war ja die Erkenntnis von Hombach (dem jetzigen Chef des Ulrich Reitz), Stein(meier plus brück) und Schröder mit der Agenda 2010 gewesen: Schlagartige Anhebung der Profitraten durch Zusammenstutzen der „sozialen Netze“ („Einsparung“ von Kapitalsteuern und .Arbeitgeberanteilen.) und stattdessen Aufstellen eines „sozialen Trampolins“ (Hombach 1998 in seinem Spiegel-Essay „Der Befreiungsschlag“). Und nun erstmal 2008 ff, wo das durch Hartz IV usw. „gesparte“ Sozialnetzgeld, multipliziert mit einer Größenordnung von 50, für die Rettung der zweistelligen Profitrate unserer Banken weggegangen ist! Keine Maus beißt einen Faden davon ab: Das Geld für eine hegemoniale „Sozialstaat“-SPD wie in den schönen alten Zeiten ist futsch und kommt nicht wieder.

Heute sind Forderungen, die früher harmlos bzw. einfach vernünftig waren wie „Weg mit Hartz IV“, „keine Studiengebühren“ oder „Raus aus Afghanistan“, antihegemonial. Das wissen die Stein(brück plus meier) und die „Müntes“, und das zuckt so tragisch in ihren Grimassen. Und damit ist auch der Spielraum der früheren SED-Stasi-Betonköpfe um ihren „Vordenker“ André Brie beschränkt: Sooft er auch nach Afghanistan zur Bundeswehr gereist ist: Er wird seine „neue Option“ in der Linken nicht durchsetzen können – und nach dieser Wahl wird er auch mit einem Übertritt zur SPD keinen Blumentopf mehr gewinnen können: Sämtliche Blumentöpfe der SPD liegen in Scherben.

Vor vier Jahren schrieb ich an dieser Stelle über die Zweite Große Koalition der Bundesrepublik, dass sie systemwidrig sei, weil keine Notstandssituation vorliege. Sie müsse also das „normale“ deutsche Parteiensystem schwächen. Dieses System beruhe auf zwei großen „Volksparteien“, einer der rechten und einer der linken „Mitte“ (Normalität), zwischen denen tiefenstrukturell immer eine Große Koalition bestehe, weil sie in den hegemonialen Essentials übereinstimmten (Kapitalismus, Großindustrialismus, soziales Netz per Umverteilung, Konsens mit Gewerkschafts- und Kirchenapparaten, Westbindung, NATO) und sich auf dieser Basis in Regierung und (hegemonietreuer) Opposition abwechseln könnten. Das normale politische Spiel bestand also darin, dass die unvermeidliche Unzufriedenheit mit der jeweiligen Regierung durch die jeweilige hegemonale Zweite, die sich „in der Opposition regenerierte“, aufgefangen werden konnte. Die formelle Große Koalition war somit für wirkliche Notstandssituationen aufgespart.

Insofern war die Große Koalition von 2005 systemwidrig, weil die Zeiten damals insgesamt noch normal waren. Das hat sich aber mit der kapitalistischen Megakrise, wie sie 2008 „ausbrach“, geändert: Seitdem besteht–. auch wenn das vor der Wahl völlig verdrängt wurde – tatsächlich eine Notstandssituation und damit tatsächlich die Bedingung für eine Große Koalition. In der alten Regierung waren es nur Steinbrück und Schäuble, die diese „mutige Wahrheit“ ansatzweise ausgesprochen haben. Im Wahlkampf wurde statt dessen um den verbalen Fetisch „Wachstum“ herum Normalität zelebriert.

Damit ist nun aber paradoxerweise 2009 die umgekehrte, nicht weniger systemwidrige Situation wie 2005 entstanden: „Schwarzgelb“ ist eine „normale“ Regierung der „rechten Mitte“ in nicht-normalen Zeiten (und vom System her wäre jetzt eine offen den Notstand proklamierende Große Koalition „richtiger“ gewesen). Das wird sich bald erweisen, und es war an dem mimisch eigenartig verzerrten Grinsen aller Sieger am Wahlabend bereits ablesbar. Denn keine der beiden „normalen“ Hälften (Regierung rechts und Opposition links) wird lange normal funktionieren können. Die Opposition ist, wie oben erläutert, nicht länger insgesamt eine hegemoniale (was auch die Grünen einer Zerreißprobe aussetzen wird, insbesondere was den Krieg in Afghanistan betrifft). Und die Regierung? Der Erfolg der Westerwelle-FDP verdankt sich vor allem jenen Wählern, die an die bereits erreichte Normalisierung der Krise glauben. Dazu gehört auch ein erheblicher Teil der jungen „Generation Internet“ (deren „Avantgarde“ die „Piraten“ gewählt hat). Ihnen geht es vor allem um die Verhinderung der Vorratsdatenspeicherung und ähnlicher Schäuble-Maßnahmen sowie einen radikalen „open access“.

Schäuble argumentiert mit der wachsenden Terrorgefahr wegen der Eskalationspolitik der Bundeswehr in Afghanistan und damit mit dem Notstand. Das wird nicht der einzige Antagonismus zwischen Notstand und Normalität bleiben. Vor allem hat die neue Regierung auf Normalität in der Wirtschaft gesetzt: Sie klammert sich an das Wort „Wachstum“ und meint normales Wachstum damit. Des Pudels Wachstum Kern heißt aber: Wachstum der Profite und Profitraten (mindestens Erreichung hoher Profitraten) – wie soll das bei anhaltendem Einbruch der Exporte und damit sinkenden Gewinnmargen auf den Weltmärkten wegen der wachsenden Konkurrenz allein von der Politik erreicht werden? Und was, wenn die nächste Abwärtsspiralenphase der Krise mit steigender Arbeitslosigkeit beginnt? Dann muss die Agenda-Politik verstärkt werden, ohne dass eine starke hegemoniale Opposition samt Gewerkschafts- und Kirchenapparaten Flankenschutz geben kann. Wie soll Guido seine neue Klientel bei der Stange halten, ohne dass Merkel ihre verliert? Sollte die Krise also anhalten, dürfte Schwarz-gelb als „normale“ Regierung die vier Jahre nicht durchstehen können. Also sich entweder (nach einem denormalisierenden Megaereignis) als Notstands- Regierung ganz „neu aufstellen“ – was aber ohne Einbeziehung einer hegemonietreuen Opposition nicht geht – oder?

Bei Anhalten der kapitalistischen Krise werden sich also Denormalisierungen häufen: nicht nur in der Ökonomie, nicht nur in der Politik, nicht nur im Sozialen, sondern auch in Militär, Kultur und Alltag. Es werden sich auch die Kopplungen zwischen Denormalisierungen häufen. Konkret bedeutet das immer mehr „überlaufende Fässer“, Entstehungen von Antagonismen (die durch konsensuelle Kompromisse nicht mehr zu kitten sind) und eben Kollapse. Dem Kollaps der SPD werden andere Kollapse folgen – auf den verschiedensten Ebenen. Jeder einzelne Kollaps „ruft“ nicht-hegemoniale Subjekte „an“ – wie jetzt der große Kollaps der SPD. Was die Auseinandersetzung hegemonialer und nicht-hegemonialer Tendenzen in der neuen parlamentarischen „Opposition“ betrifft, so wird sie nur dann produktiv werden können, wenn starke nicht-hegemoniale außerparlamentarische Oppositionen „Druck machen“, um eine hegemoniale Sprechblase umzufunktionieren. Natürlich ist die Situation gefährlich, weil die Opfer der Krise in Isolation gehalten und dadurch ohnmächtig gemacht werden sollen. Aber der Kollaps der SPD öffnet auch lange Zeit hegemonial versperrte diskursive Räume, in die neue, nicht-hegemoniale Diskurse jetzt hineinströmen können. Und hoffentlich werden!