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Der alte Himmel und die alte Erde

Die Enzyklika Caritas in Veritate empfiehlt die Marktwirtschaft und das gemütliche Jenseits. Von Jobst Paul. Erschienen in DISS-Journal 18 (2009)

Die Tradition

Während in gesellschaftspolitischen Debatten gern auf die ‚katholische Soziallehre’ als Institution des Katholizismus verwiesen wird, meint Erzbischof Giampaolo Crepaldi ((Seit Juli 2009.)) als Sekretär des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden, dass „die Sozialethik nicht als Teil der kirchlichen Tradition“ gelte. ((Crepaldi, Giampaolo, Awaiting the new Encyclical of Benedict XVI. In: International Observatory Cardinal Van Thuân (http://www.vanthuanobservatory.org) vom 21. Januar 2009.)) Im Januar 2009 und mit Blick auf eine neue Sozial-Enzyklika von Papst Benedikt XVI. erinnerte Crepaldi daran, dass das Lehramt in der Vergangenheit nur zögernd, bzw. mit Verzögerung sozialethische Verantwortung übernommen hätte. Eine ‚Tradition’ der katholischen Soziallehre gebe es erst seit der Enzyklika Rerum Novarum aus dem Jahr 1891, in der Papst Leo XIII. auf die industrielle Revolution reagierte – nachdem diese schon über ein halbes Jahrhundert lang die europäischen Gesellschaften erschüttert hatte: Anstoß waren die Predigten (1848/1849) des Wilhelm Emmanuel von Ketteler gewesen, die 1849 unter dem Titel „Die großen sozialen Fragen der Gegenwart“ erschienen waren.

Dennoch bedurfte es nach 1891 weiterer Jahrzehnte, bis die Enzyklika Populorum Progressio von Paul VI. (1967) auf die Weltgesellschaft insgesamt Bezug nahm. Der Text, der untrennbar mit dem II. Vatikanischen Konzil verknüpft ist, forderte einen Ausgleich zwischen Nord und Süd und zwischen Arm und Reich und klagte die Bringschuld der westlichen Kolonialmächte ein. Entsprechend sollte Caritas in Veritate, die neue Sozial-Enzyklika von Papst Benedikt XVI., im Jahr 2007 zum 40. Jahrestag von Populorum Progressio herauskommen. Doch sorgte die Weltwirtschafts- und Weltfinanzkrise für unvorhergesehenen, neuen Stoff und damit für eine Überarbeitung des Textes: Erst im Juni 2009 unterzeichnete Benedikt XVI. das nun auf über 100 Druckseiten angewachsene Dokument.

Fragt man, warum das katholische Lehramt in seiner Geschichte so lang zur existenziellen Frage der Menschheit nach ihrem weltlichen Weg schwieg, stößt man zunächst auf den christlich-theologischen Primat von transzendenten Glaubensaussagen, denen weit mehr Gewicht zukommen soll als der ‚irdischen’ Frage nach Gut und Böse. Sogar ein protestantischer Theologe meinte kürzlich: „Unser Glaube und die Kirche und alles, was wir damit verbinden, ist eine halbe Sache und ist im Grunde auf dem Holzweg, wenn wir sie nur innerweltlich (…) verstehen. Wenn die Transzendenz fehlt, wenn der Blick auf den Himmel fehlt, auch der naive Glaube des Menschen an ein Leben nach dem Tod, wenn wir das aufgeben, können wir die Kirche schließen.“ ((Pastor Andreas Müller, Marienstift Arnstadt. NDR Info vom 26. September 2009.)) Und noch in seiner Regensburger Rede vom 12. September 2006 hatte Benedikt XVI. vor der bloßen Auffassung Jesus’ als „Vater einer menschenfreundlichen moralischen Botschaft“ gewarnt. Damit würde man nämlich „den Kult zugunsten der Moral“ verabschieden und den „Glauben an die Gottheit Christi und die Dreieinheit Gottes.“ in Gefahr bringen. ((Vgl. Paul, Jobst, Die katholische Kirche auf dem Weg zur .robusten Ökumene.? In: Schneiders, T. G. (Hg.) Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwinden. Wiesbaden : VS Verlag 2009, S. 398.))

Man könnte diese Herabstufung der ethischen Reflexion, die auch vor dem eigenen Religionsstifter als Juden nicht Halt macht, als theologisches Kuriosum ignorieren, steckte darin nicht zugleich ein religionsgeschichtliches Skandalon mit katastrophalen Folgen. Denn der abwertende Blick auf die ‚bloße’ Ethik, d.h. auf die reiche rechtliche und sozialethische Erfahrung des Alten Testaments zielte auf das Judentum. Mit dem Übergehen und der Übertrumpfung der jüdischen Ethik ((Paul, Jobst, Die christliche Übertrumpfung des Judentums als Paradigma der Ausgrenzung. In: Holz, K., Kauffmann, H.; Paul, J. (Hrg.) Die Verneinung des Judentums. Antisemitismus als religiöse und säkulare Waffe. Münster : Unrast 2009, S. 46-65.)) verbaute sich die Amtskirche aber nachhaltig den Anschluss an die Grundlegung der eigenen Werte, verlernte den Umgang mit sozialethischen Prinzipien – und trat die gewaltsame Geschichte der Judenfeindschaft los. An diese und anderen Dimensionen der ‚Wahrheit’ erinnerte auch Robert Leicht:

„Wenn es ohne den Glauben an die kirchliche Lehre keine .ganzheitliche Entwicklung des Menschen., ja des Menschengeschlechts geben soll, wie kann es dann angehen, dass die Kirche in ihrer Geschichte so oft gegen den Geist der Wahrheit und der Liebe gehandelt hat, von den Zwangsbekehrungen über die Kreuzzüge, die Inquisition und die religiösen Bürgerkriege bis zu der Kollaboration mit fragwürdigsten Machthabern und Eliten in der jüngsten Vergangenheit?“ ((Leicht, Robert, Wahrheitsliebe. Mehr Selbstkritik hätte der neuen Enzyklika des Papstes gutgetan. In: Die Zeit Nr. 29 / 9.07.2009.))

Offenbar besteht ein Zusammenhang zwischen der kirchlichen Anlehnung an die Herrschaft und die Ideologien nationalistischer und totalitärer Regime und ihrer langen sozialethischen Abstinenz: Als Teilhaber daran musste sie die Unteilbarkeit der menschlichen Gleichheit und der Gerechtigkeit bestreiten, was sie auch ausgiebig tat. Mit der Enzyklika Rerum Novarum (1891) begab sie sich auf den offenbar mühsamen Weg, diese Prinzipien wieder buchstabieren und umsetzen zu lernen, vorläufig nur hinsichtlich des Verhältnisses von Kapital und Arbeit. Erst mit Populorum Progressio (1967) legte sie sich auf die globale Geltung ((Caritas in Veritate (= CiV), A. 39: „Damit dehnte er [Paul VI.] die Forderungen und Ziele der Enzyklika Rerum novarum auf eine universale Ebene aus.“)) von Freiheits- ((„Und der Mensch ist nur in dem Maß wahrer Mensch, als er (…) selbst der Meister seines Fortschritts ist, in Übereinstimmung mit seiner Natur ….“. (A. 34).)) und Grundrechten (A. 31) und von verlässlichen Rechtsordnungen (A. 78) als Voraussetzung sozialethischer Maximen fest.

Die ‚Menschheit’

Unter Rückgriff auf Populorum Progressio (A. 10-20) wird diese Festlegung in Caritas in Veritate (2009) zum Leitmotiv, wobei die 79 Abschnitte des Dokuments einen emphatischen Kern in den Mittelpunkt rücken. Inmitten der Anrufung von ‚Freiheit’, ‚Recht’ und ‚Gerechtigkeit’ (auch ‚Demokratie’) wird 25 Male die Kernvorstellung der „Menschheit“ hervorgehoben und in weitere Varianten gekleidet: seien es (70fach) die „Völker“, (30fach) die „Nationen“ und „Kulturen“, die Völker als „menschliche Familie“ (A. 73), oder sei es die „Familie“ der Völker (A. 13, 53, 57), die „Familie der Nationen“ (A. 67), die „Gemeinschaft der Völker und der Nationen“ (A. 7), die „Gemeinschaft der menschlichen Familie“ (A. 73), „die ganze menschliche Familie“ (A. 79), die „Menschheitsfamilie“ (A. 7, 32, 42, 50, 53, 54) oder die „brüderliche Gemeinschaft“ der Menschheit (34).

Weitere Formeln wie „universales Gemeinwohl“ (A. 76), die „universale Gemeinschaft“ (A. 35, 55, 59) oder die „universale Ebene“ (A. 59) wecken die Erwartung, die große Gestik würde inhaltlich in Richtung eines Universalismus der Werte präzisiert. Die Erwartung wird verstärkt durch eine intensive Metaphorik des „Weges“ (25 Male), auf dem sich die Menschheit befände. Über 250 Male wird die „Entwicklung“ beschworen, die sie soeben durchmache.

Stattdessen löst die Enzyklika die große Geste nur durch die eher profane Begrifflichkeit der (ökonomischen) „Globalisierung“ (25 Male) ein: Erwähnt werden daneben die „zunehmend globalisierte Gesellschaft“ (A. 19), der „globale Rahmen“ (A. 64), „eine globale Neuplanung der Entwicklung“ (A. 23), der „global gewordene Markt“ (A. 25), die „globalisierte Wirtschaft“ (A. 37), die „Ausrichtung des globalen Integrationsprozesses“ (A. 42), globale Verantwortung (A. 50), „die Frage nach einem globalen Gemeingut“ (A. 57), die „globalen Wirtschaftskreisläufe“ (A. 47), und die „Mechanismen der globalisierten technologischen Zivilisation“ (A. 59). Diese Alltagsformeln lassen die unvergleichliche Intensität, mit der die Enzyklika (durchschnittlich sechsmal pro Abschnitt) an die Idee der ‚einen Welt’ appelliert, als aufgesetztes Pathos erscheinen.

Und auch die spirituelle Ergänzung, die Benedikt XVI. im Verlauf des Textes immer wieder fordert, erweist sich nicht als Beitrag zur kritischen Analyse der „Globalisierung“ oder von Akteuren, Zielen und Methoden. Denn hinter dem ‚echten’, ‚neuen’, ‚wahren’, ‚christlichen’, sich dem ‚Absoluten’ öffnenden, kurz: ganzheitlichen (25 Nennungen) „Humanismus“ (A. 16, 18, 19, 78), den der Papst unter Rückgriff auf Populorum Progressio zum Leitbild erhebt, verbirgt sich das genaue Gegenteil von sozialethischen Handlungsmaximen, nämlich die „metaphysische Interpretation des humanum“ (A. 55), bzw. die erneute Forderung, über der ‚irdischen’ Ethik, der Willensfreiheit und der individuellen Verantwortung nicht das Wichtigste, das Jenseits, zu vergessen. Nur „Metaphysik und Theologie“ könnten .die transzendente Würde des Menschen. herstellen, nicht die Sozialwissenschaften allein (A. 53).

Wie allerdings der ‚echte ganzheitliche Humanismus’, auf die Menschheit insgesamt bezogen, sozialethisch eingelöst und beglaubigt werden könnte, lässt die Enzyklika offen. Es muss tiefe Zweifel an einer tiefer gehenden sozialethischen Motivation der Kirche wecken, wenn der Text sich stattdessen gerade an dieser Stelle in politischen Populismus (und Utopismus) flüchtet. Wer die nachfolgenden Forderungen in die Wege leiten, wer die imaginierten Machtpositionen einnehmen und wer sie kontrollieren soll, und ob sie eher im Sinne des Hobbes’schen Leviathan und einer irgendwie aus dem Off wirkenden göttlichen Transzendenz verstanden werden sollen, scheint dem Papst gleichgültig zu sein:

„Um die Weltwirtschaft zu steuern, die von der Krise betroffenen Wirtschaften zu sanieren, (…) um eine geeignete vollständige Abrüstung zu verwirklichen, sowie Ernährungssicherheit und Frieden zu verwirklichen, den Umweltschutz zu gewährleisten und die Migrationsströme zu regulieren, ist das Vorhandensein einer echten politischen Weltautorität (…) dringend nötig. Eine solche Autorität muß sich dem Recht unterordnen, (…) sich für die Verwirklichung einer echten ganzheitlichen menschlichen Entwicklung einsetzen, (…) von allen anerkannt sein, über wirksame Macht verfügen, (…) die Befugnis besitzen, (…) getroffenen abgestimmten Maßnahmen Beachtung zu verschaffen.“ (Absch. 67)

Passagen wie diese weckten bei Kommentatoren in der Tat Zweifel, ob „sich Papst Benedikt bei der Erarbeitung des Schreibens von einer aktuellen sozialen oder internationalen Problemlage herausfordern lässt, zur Lösung eines schwelenden Konflikts beitragen oder sich an der Beseitigung einer himmelschreienden Ungerechtigkeit beteiligen möchte.“ ((Emunds, Bernhard, Kein großer Wurf. Kommentar zur Enzyklika Caritas in Veritate. In: Oswald von Nell-Breuning Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik vom 7. Juli 2009 [http://www.sankt-georgen.de].)) Dass diese Passage dennoch so „viel spontanen Beifall aus verschiedensten Richtungen“ auslöste, führte Hermann Steinkamp auf die darin demonstrierte „politische Äquidistanz zu allen politischen Positionen“ zurück ((Steinkamp, Hermann, Vor lauter Bäumen sieht man den Wald .Globalisierung. nicht mehr. In: Institut für Theologie und Politik (Münster) 11. Juli 2009 [http://www.itpol.de/].)). Doch auch wenn man die Enzyklika als Kamingespräch eines Unpolitischen versteht, hält sie sich an alte politische Gewohnheiten. Jörg Eigendorf ((Eigendorf, Jörg, Papst Benedikt XVI. traut dem Staat zu viel zu. In: Die Welt (online) vom 7. Juli 2009 [http:// www.welt.de].)) bezeichnete es als „äußerst fragwürdig“, wenn das katholische Lehramt zwar eine alles erschütternde Wertekrise ‚von unten’ diagnostiziere, die Werte aber wie gehabt von oben, von der „Staatshand“ kurieren lassen wolle.

Eigendorfs Alternativvorschlag geht dahin, die Kirche solle stattdessen mit der Wertedebatte „in den Dialog mit vielen Managern“ treten. Ob die Kirche allerdings etwas Instruktives sagen könnte, muss bezweifelt werden: An anderer Stelle erinnert Benedikt XVI. nämlich an ‚anthropologische’ Hindernisse gegen eine willentliche moralische Umkehr: Bei der Interpretation der sozialen Gegebenheiten und beim Aufbau der Gesellschaft, d.h. auch dort, wo die Wirtschaft Autonomie fordere und moralische „Beeinflussung“ zurückweise, müsse stets „die Erbsünde“ beachtet werden, so die „Weisheit der Kirche“. Die „schädlichen Auswirkungen“ der „Ursünde“ zeigten sich übrigens grundsätzlich dort, wo die Überzeugung vorherrsche, man könne „das in der Geschichte gegenwärtige Übel allein durch das eigene Handeln überwinden“, und wo man „das Glück“ in Formen „des sozialen Engagements“ erblicke (alle A. 34).

So verwundert es nicht, dass die Enzyklika noch einmal das „Denken und Wollen“, d. h. konkrete Überlegungen zur Sozial- und Wirtschaftsethik, zugunsten einer passiven Glaubenshaltung zurückweist. Die Wahrheit komme „nicht aus Denken und Wollen, sondern überm ächtigt gleichsam den Menschen.“ Die Wahrheit werde „nicht von uns erzeugt, sondern immer gefunden, oder besser, empfangen.“ (A. 34) Die „ganzheitliche Entwicklung des Menschen“ auf Erden sei nur ein Echo „auf eine Berufung durch den Schöpfergott“. Sie könne nur in einem „Humanismus jenseitiger … Art“ verwirklicht werden. (A. 18) Vor diesem Hintergrund können freilich alle auf Gerechtigkeit pochenden Ansätze und Analysen, kann alles Sich-Einlassen auf Wirklichkeit und Geschichte zur Klasse der „Messianismen“ geschlagen werden, die für Benedikt XVI., da sie das Hier und Jetzt im Auge haben, „auf die Leugnung der transzendenten Dimension der Entwicklung“ gründen und sich damit disqualifizieren. (A. 17) Damit aber geht der Enzyklika selbst der Ort abhanden, von dem aus sozialethisch überhaupt agiert werden könnte. Dass der Papst damit eine höchstpolitische Position bezieht, zeigt sich dann im „Kleingedruckten“ des Textes.

Sozialethische shopping list

Die mühsame Extraktion eines „Deutungsrahmens“ aus dem Lehrschreibens kann nicht verbergen, was bereits im März 2007 Bischof Giampaolo Crepaldi, Sekretär des Päpstlichen Rats für Gerechtigkeit und Frieden, beklagte, nämlich „das Unvermögen der Kirche, ihre Soziallehre in einer systematischen und zusammenhängenden Weise zu vertreten“ ((Crepaldi, Giampaolo, Three Catholic weaknesses. In: Catholic Insight vom 1. März 2007.)): In neuerer Zeit hat sich die Kirche wohl kein vergleichbar chaotisches und redundantes Dokument erlaubt. Dies wurde in der englisch- wie deutschsprachigen Rezeption gleichermaßen hervorgehoben.

Die Enzyklika sei ein Fabel-, bzw. Schnabeltier („a duck-billed platypus“) ((Weigel, George, Caritas in Veritate in Gold and Red. In: National Review vom 7. Juli 2009.)), eine .Einkaufsliste. ((Vgl. Bunting, Madeleine, Big on morals – but big on moralising too. In: The Guardian vom 7. Juli 2009.)), „thematisch überladen“ ((Mette, Norbert, Caritas in veritate. In: Institut für Theologie und Politik (Münster) vom 10. Juli 2009 [http:// www.itpol.de/].)), ein „schwacher Aufguss“ von bereits Gesagtem ((Drobinski, Matthias, Der weltfremde Papst. In: Süddeutsche Zeitung vom 8. Juli 2009.)), ein „Trauerspiel“ ((Deckers, Daniel, Katholisches Selbstgespräch. In: FAZ vom 7. Juli 2009.)), bzw. ein Mischmasch von Inhalten ((Bottum, Joseph, The New Encyclical. In: First Thoughts vom 3. Juli 2009 [http://www.firstthings.com]. Der Kommentar erschien bereits vor Veröffentlichung der Enzyklika.)) und verschlungenen Gedankengängen ((Vogt, Markus, Beredtes Schweigen. In: AG der Sozialethikerinnen und Sozialethiker des deutschsprachigen Raumes. Juli 2009 [http://www.christliche-sozialethik.de].)) oder kurz: ein „Schrottpapier“ (Friedhelm Hengsbach). ((Sozialethiker kritisiert Enzyklika des Papstes, a.a.O.)) Besonders eklatant erscheint, dass das Papier zwar beteuert, die Kirche könne keine „technischen Lösungen“ (A. 9) anbieten, aber zugleich eine „schier unerschöpfliche Palette der Vor- und Ratschläge“ ausbreitet, so dass man „vor lauter Bäumen … den Wald ‚Globalisierung’ nicht mehr“ sieht ((Drobinski, Matthias, Der weltfremde Papst. In: Süddeutsche Zeitung vom 8. Juli 2009.)). Benedikt XVI. plaudert belehrend über „Detailfragen heutiger Unternehmensethik“, über „die Macht der Konsumentenverbände, wünschenswerte Familiengrößen usw. bis zu ethischer Kreditpraxis und Mikrofinanzierung“ ((Alle Zitate von: Boff, Leonardo, Dem Papst täte ein bisschen Marxismus gut. In: Institut für Theologie und Politik (Münster) vom 22. Juli 2009 [http://www.itpol.de/].)). Die BILD-Zeitung meinte sogar, im „Kleingedruckten“ eine „revolutionäre Steuerreform“ entdeckt zu haben ((Die Enzyklika wurde unmittelbar vor dem Treffen der ‚G8’ (am 7. Juli 2009) publiziert.)), und während Klimawandel oder mögliche Wasser- und Rohstoffkonflikte unerwähnt bleiben ((Ulrich, Stefan, Verschlungene Gedankengänge. In: Süddeutsche Zeitung vom 8. Juli 2009.)), wartet die Enzyklika mit einer überraschenden Lösung der derzeitigen Krise auf.

Dazu betont der Text zunächst die Wichtigkeit der distributiven Gerechtigkeit für die Marktwirtschaft selbst: „Ohne solidarische und von gegenseitigem Vertrauen geprägte Handlungsweisen in seinem Inneren kann der Markt die ihm eigene wirtschaftliche Funktion nicht vollkommen erfüllen.“ Das jetzt verloren gegangene Vertrauen sei „ein schwerer Verlust.“ (A. 35) Kritisiert wird insbesondere die Trennung zwischen der Wirtschaftstätigkeit, die Reichtum schaffen soll, und der Politik, die für die distributive Gerechtigkeit zuständig sein soll. (A. 36) Aber hier bricht die institutionelle Kritik schon ab: Letztlich sei nicht der Markt und seine Mittel, sondern „die verblendete Vernunft der Menschen“ für Fehlentwicklungen verantwortlich. Daher müsse sich der Appell zugunsten eines Ethos der ‚Unentgeltlichkeit’ „nicht an das Mittel, sondern an den Menschen richten, an sein moralisches Gewissen und an seine persönliche und soziale Verantwortung.“ (A. 36)

Um nun zu ihrer erstaunlichen Lösung der gegenwärtigen Krise zu kommen, erinnert sie – wieder von der institutionellen Ebene her – daran, dass neben Staat und Wirtschaft auch die „Zivilgesellschaft“ als Marktteilnehmer in Frage komme. Wären nun vermehrt zivilgesellschaftliche „Produktionsverbände“ mit sozialen Zielen auf dem Markt tätig, so würde ihr „Zusammentreffen“ mit anderen eine „Art Kreuzung und Vermischung der unternehmerischen Verhaltensweisen“ bewirken, und als Folge würde dann gewiss „spürbar auf eine Zivilisierung der Wirtschaft geachtet.“ (A. 38) Nun fordert der Papst aber – wie einschlägige Lehrbücher des liberalen Wirtschaftens – aber zugleich einen Markt, „auf dem Unternehmen mit unterschiedlichen Betriebszielen frei und unter gleichen Bedingungen“, d.h. eben unter ‚Marktbedingungen’, agieren. Auch ‚soziale’ „Produktionsverbände“ würden daher nicht auf Gewinn verzichten, ihn aber nicht als Selbstzweck betrachten. Ausdrücklich fügt Papst hinzu, dass diese spektakuläre Idee ein Beispiel für das Prinzip „Liebe in der Wahrheit“ (Caritas in veritate) sei. (alle Zitate A. 38) So scheint es nur konsequent, wenn die Enzyklika die noch von Paul VI. formulierte „Option für die Armen“ fallen lässt und nun auch noch die globale ‚Armut’ marktwirtschaftlich interpretiert. Die „angemessen geplanten und ausgeführten“ Globalisierungsprozesse ermöglichten nämlich „eine noch nie dagewesene große Neuverteilung des Reichtums.“ Nur wenn diese Prozesse „schlecht geführt“ würden, könne es „zu einer Zunahme der Armut und der Ungleichheit führen.“ (A. 42) Schon zuvor hatte der Papst auf Populorum progressio verwiesen, wonach „allgemein verbreitete gerechte Handlungsweisen für das Wirtschaftssystem selbst einen Vorteil darstellen, da die reichen Länder die ersten Nutznießer des wirtschaftlichen Aufschwungs der armen Länder sind.“ – „Die Armen dürfen nicht als eine ‚Last’ angesehen werden, sondern als eine Ressource, auch unter streng wirtschaftlichem Gesichtspunkt“ – meint Benedikt XVI. Zwar sei die Marktwirtschaft nicht „strukturell auf eine Quote von Armut und Unterentwicklung angewiesen“, es sei aber „im Interesse des Marktes, Emanzipierung zu fördern.“ (A. 37)

Vor diesem marktwirtschaftlichen Hintergrund überrascht nun doch, dass das Papier den Schlüssel zur einen Weltgemeinschaft in der Ausbildung inniger zwischenmenschlicher ‚Beziehungen’ sieht. Ebenso nämlich, wie der Mensch sich zum Nächsten, d.h. „in den zwischenmenschlichen Beziehungen“ verwirkliche, so sei es auch in der Beziehung zwischen den Völkern. Die Kirche habe dafür – so verblüfft Benedikt XVI. den Leser – eine ganz besondere Kompetenz: In „der Beziehung der Personen der Dreifaltigkeit in dem einen Göttlichen Wesen“ finde das Gemeinte nämlich „eine klare Erhellung“ … (A. 54)

Resümee

In der Tatsache, dass es sich der Papst erlaubt, angesichts dramatischer ökonomischer wie ökologischer Szenarien „theoretisch am Schreibtisch“, gleichsam .“aus der Perspektive eines wohlwollenden Beobachters“ ((Sozialethiker kritisiert Enzyklika des Papstes. Friedhelm Hengsbach im Gespräch mit Jürgen Zurheide. In: Deutschlandfunk vom 11. Juli 2009. [http://www.dradio.de].)) und über den gesellschaftlichen Konflikten und Widersprüchen (Norbert Nette) über „das Panorama der Welt“ zu plaudern, kann man die „Grenzen dieses unpolitischen Papstes“ ((Steinkamp, a.a.O.)) sehen. Doch sollte die taktische Funktion der vermeintlichen „Unschuld“ ((Steinkamp, a.a.O.)) und ihre restaurative Energie nicht übersehen werden.

So bietet die Enzyklika eine Fülle wohlfeiler politischer Ratschläge. Da ihnen aber von vornherein die theologische Legitimation ebenso wie der politische Ort der Realisierbarkeit verwehrt wird, bleiben sie Spielmaterial, das den wenig ansehnlichen Kern des Textes, die Unterfütterung neoliberaler Marktprinzipien mit dem Dogma der Kirche, nur dürftig verdecken kann. Mit Recht meint der Befreiungstheologe Leonardo Boff, dessen Doktorvater einst Joseph Ratzinger war, der Text arbeite „der funktionalen Ideologie der herrschenden Gesellschaft zu“ und bewege sich in einem Diskurs, „der das herrschende System reproduziert, das alle leiden macht, besonders die Armen.“

Wie den G20-Gipfeln ginge es dem Papier um „Berichtigungen statt Veränderungen, Verbesserungen statt Paradigmenwechsel, Reform statt Befreiung“, um „Korrektur“ statt „Bekehrung“. Benedikt XVI. lege „keinen Wert auf den neuen Himmel und die neue Erde, die durch menschliche Praxis antizipiert werden können.“ Er kenne allein das „dekadente“, „unhaltbare Leben“ und das Jenseits:

„Indem er nicht vom symbolischen Kapital der Transformation und der Hoffnung, die in der christlichen Botschaft enthalten ist, ausgeht, verpasst er eine große Gelegenheit, sich in einem dramatischen Moment der Geschichte an die Menschheit zu wenden. (…) Er rückt so von der großen biblischen Botschaft, ihren revolutionären politischen Konsequenzen und ihrer Behauptung ab, dass die endgültige Utopie des Reiches der Gerechtigkeit, der Liebe und der Freiheit nur wirklich sein wird in dem Maße, wie sie diese Güter unter uns, in den Grenzen von Raum und Zeit, gestaltet und vorwegnimmt.“

Eine andere Hypothek kommt hinzu: Nachdem das Lehramt seit einem Jahrhundert die ‚katholische Soziallehre’ zunehmend mit Gewicht versehen hat, wird diese von der jetzigen Enzyklika jeder Ernsthaftigkeit beraubt und ins Abseits gelenkt. Von dort wird sie nur ohne Benedikt XVI., dann vielleicht aber mit großer Wucht auf die Bühne zurückkehren.