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Manifestationen des Antisemitismus

Zwei heiße Eisen. Einige Anmerkungen zu den Reports der Beobachtungsstelle für Rassismus und Xenophobie (EUMC) ((Eine umfassendere Auseinandersetzung mit diesen Reports ist 2005  erschienen unter dem Titel „Manifestations of Antisemitism: Zur Rezeption der EUMC-Reports zum Thema “Antisemitismus“, in:  Moshe Zuckermann (Hg.): Antisemitismus. Tel Aviver Jahrbuch 2005 für deutsche Geschichte, Göttingen: Wallmann, S. 110-139.)). Von Siegfried Jäger. Erschienen in DISS-Journal 13 (2004)

Die Antisemitismusforscher Werner Bergmann und Juliane Wetzel vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung waren 2002 vom Wiener Beobachtungszentrum für Rassismus und Xenophobie (EUMC) beauftragt worden, einen Bericht über die Verbreitung von Antisemitismus in den damals noch 15 EU-Ländern zu erarbeiten. Und sie legten diesen Report auch fristgerecht vor. Die Wiener um Beate Winkler aber hielten diesen Bericht lange Zeit unter der Decke, und dies löste einen heftigen öffentlichen Streit aus.

Die Kritik an dem Bericht der Berliner Wissenschaftler seitens der Wiener Beobachtungsstelle entzündete sich daran, dass diese zu dem Ergebnis gekommen waren, dass antijüdische Gewaltakte in den EU-Ländern nicht nur von (einheimisch christlichen) Rechtsextremisten begangen worden seien, sondern zunehmend von islamischen Jugendlichen, die eindeutig antisemitisch motiviert seien. Dies war der Hauptgrund dafür, dass der Bericht zurückgehalten wurde: Rassismus, der sich in allen Ländern der damaligen EU insbesondere gegen muslimische Menschen richtet, so wurde befürchtet, könne durch die Veröffentlichung des Reports neue Nahrung erhalten.

Die Skandalisierung dieses Reports führte dazu, dass das EUMC eiligst einen weiteren Report ausschrieb und bei sich selbst in Auftrag gab (EUMC-Report II). Während die erste Fassung des ersten Reports im September 2002 fertiggestellt, nach Überarbeitungen im Januar 2003 dem EUMC übergeben und erst aufgrund heftiger öffentlicher Kritik an dieser Zurückhaltung im Laufe des Jahres 2003 offen zugänglich gemacht wurde, erschien der zweite wenige Monate nach Veröffentlichung des ersten Berichts bereits im März 2004. Er enthält die 15-EU-Länder-Berichte der National Focal Points, die von einem »unabhängigen Wissenschaftler«, Dr. Alexander Pollak, unterstützt von einem weiteren Wissenschaftler, Alexander Joskowicz, bezüglich Qualität und Verfügbarkeit (availability) sowie Erkennungsproblemen und Lücken ausführlich evaluiert worden sind. Außerdem werden in Report II Vorschläge für die zukünftige Datenerhebung und für die weitere Forschung vorgelegt.
Für die Wiener Beobachtungsstelle war der Report der Berliner Wissenschaftler offensichtlich mehr als ein heißes Eisen. Zu bestreiten war zwar nicht, dass »Antisemitismus« auch bei muslimischen Jugendlichen in Erscheinung tritt.

Befürchtet wurde jedoch, dass die besondere Betonung dieses Umstandes dazu angetan sein könnte, eine in Europa nach den Terroranschlägen in den USA möglicherweise wachsende »Islamophobie« weiter anzuheizen.

Daher wurde die Grundthese des ersten Reports, dass aktueller Antisemitismus in Europa insbesondere auch von »radical Islamists« (Report I,7) ausgehe, in Report II vorsichtig zurückgenommen.

Hier sind es dann nicht mehr »radical Islamists«, die für Feindlichkeiten gegen Juden verantwortlich seien, sondern junge Muslime, Leute nordafrikanischen Ursprungs oder Einwanderer, also nicht unbedingt fanatische Anhänger des Islam. Des weiteren sind es nicht (nur) Menschen, deren Glaubensrichtung in den Vordergrund gerückt wird, sondern insbesondere deren Nicht-EU-Herkunft. Mehr noch: Auch auf die Unzuverlässigkeit der Daten wird verwiesen, da sie allein aus Wahrnehmungen von Opfern oder Zeugen stammten und nicht aus offiziellen Erhebungen. Es wird also zugegeben, dass sich die Identität der Täter (bislang) nicht verlässlich bestimmen lässt.
In den Medien wurde die Studie denn auch immer wieder als »umstritten « bezeichnet. So wird berichtet, die Wiener Beobachtungsstelle habe insbesondere die Antisemitismus- Definition der Berliner Forscher gestört. Diese Definition beziehe auch anti-israelisch motivierte Vorfälle mit ein. Im Klartext: Sie subsumiere auch vertretbare Kritik an Israel unter den Begriff des Antisemitismus.

Die von den Berlinern applizierte Definition stützt sich auf Arbeiten von Helen Fein und Dietz Bering. ((Helen Fein, »Dimensions of Antisemitism: Attitudes, Collective Accusations and Actions«, in: dies. (Hg.), The Persisting Question. Sociological Perspectives and Social Contexts of Antisemitism, vol. 1, ed. by Herbert A. Strauss/Werner Bergmann, Berlin/New York 1987, 67, und Dietz Bering, Gutachten über den antisemitischen Charakter einer namenpolemischen Aussage aus der Rede Jörg Haiders, 28. Februar, in: Anton Pelinka/Ruth Wodak (Hg.), »Dreck am Stecken« – Politik der Ausgrenzung, Wien 2002.)) Nach Helen Fein ist Antisemitismus eine individuelle oder kollektive feindliche Haltung bzw. ein feindseliges Verhalten und Handeln, das sich gegen Juden als Juden richtet.

Insgesamt handelt es sich bei dieser Definition inklusive ihrer Spezifizierung um einen durchaus elaborierten, wenn auch sicherlich noch weiter ausdifferenzierbaren Begriff, wie er der Form nach in der sozialwissenschaftlichen Literatur üblicherweise anzutreffen ist. Er kann auch nicht als »zu weit« angesehen werden, zumal eine Weite oder angemessene Kürze eines Begriffs kaum zu bestimmen sein dürfte.

In ihrer Stellungnahme wehrt Juliane Wetzel die Kritik am Begriff ab und verweist auf die geringe wissenschaftliche Kompetenz des EUMC.
Die FAZ-net vom 7. Dezember 2003 räsoniert über die Methode der Studie, die darauf abziele, Antisemitismus auch in seinen »Rauchsignalen « dingfest zu machen, also auch jene »Untiefe im politischen Diskurs«, den »semantischen Untergrund « zu beleuchten. Hier liegt zugleich eine Kritik an der Antisemitismusdefinition vor, die offenbar darauf abziele, auch Angedeutetes und Angespieltes zu erfassen. Der FAZ-Autor hält diesen Ansatz zwar für »bestechend«, aber nicht für »unproblematisch«, wenn er schreibt:

»Die Doppeldeutigkeit der Symbole, welche die Szene sich zunutze macht, um mit Unschuldsmiene Propaganda treiben zu können, kann zu Verwechslungen führen. Wer ›Ostküste‹ sagt, kann ein verkappter Antisemit sein – aber er kann auch in aller Harmlosigkeit gesprochen haben. Ähnlich verhält es sich mit Hinweisen auf den ›Einfluß der Juden‹ in Amerika. […] Da muß präzise unterschieden werden, wenn der Antisemitismus quantifiziert werden soll.«

Hier seien den Berlinern Fehler unterlaufen, etwa wenn Wörter wie »Massaker« oder »Vernichtungskrieg« als antisemitisch eingestuft werden. Solchen Wörtern wohne »keine ausschließliche NS-Assoziation inne, die zwingend genug wäre für eine Antisemitismus- Diagnose.«

Wie hier präzise unterschieden werden könnte, wird jedoch nicht gesagt; aber es reicht dem Autor der Frankfurter Allgemeine Zeitung wohl schon, mit diesen Bemerkungen die Antisemitismusdefinition der Berliner als »nicht unproblematisch « abqualifizieren zu können. In Wirklichkeit verbirgt sich dahinter ein diffiziles sprachwissenschaftliches Problem.

Als Fehler wird an gleicher Stelle auch die Einstufung eines Plakats als antisemitisch kritisiert, auf dem »Uncle Sam« mit »jüdischer Nase« dargestellt worden sei, also mit einem antijüdischen Stereotyp bestückt sei. Dem wird seitens FAZ-net entgegengehalten, das Plakat stamme aus dem Jahr 1916 und sei von einem Mr. Flagg angefertigt worden, der – um Kosten zu sparen – auf der Grundlage einer altbekannten Zeichnung nur ein harmloses Selbstportrait erstellt habe. Dies als antisemitisch zu verstehen, sei »schiere Zweckdeutung « und Alarmismus. Deshalb habe die Wiener Beobachtungsstelle den Berlinern schwammige Definitionen, willkürliche Kausalitäten und grobe Verallgemeinerungen vorgeworfen und die Veröffentlichung abgelehnt, »nicht ganz zu Unrecht«, wie die FAZ-net meint.

Nach Auffassung ihres Autors kann ein antisemitisches Stereotyp also dann nicht antisemitisch wirken, wenn es ursprünglich (vielleicht) nicht antisemitisch intendiert gewesen war – eine Vorstellung, die an Naivität kaum noch zu überbieten ist, denn es kommt ja auf die aktuelle Bedeutung und die aktuell mögliche Wirkung auf die Zeitgenossinnen an. Wenn eine Antisemitismusdefinition solche Ereignisse nicht abdecken kann, ist sie wissenschaftlich wertlos. In einem Interview der linken Wochenzeitschrift Jungle World vom 10. Dezember 2003 mit Werner Bergmann geht es ebenfalls vornehmlich um Definitionen von Antisemitismus. Bergmann betont die Respektabilität der verwendeten Definition:

»Nein, das (die Definition) ist eine (wissenschaftlich, S.J.) international anerkannte Definition. Auch dieser Vorwurf ist in unseren Augen lediglich der Versuch, unsere Arbeit im Nachhinein zu diskreditieren. «

Die Gültigkeit einer Definition begründet Bergmann hier mit ihrer internationalen Anerkanntheit. Das ist einerseits natürlich ein starkes Argument, weil es sich auf die internationale scientific community beruft. Diese ist zwar notwendigerweise pluralistisch und demzufolge wohl kaum als einheitlich anzusehen. Bergmanns Argument greift aber dennoch zu kurz, weil er sich nicht der Frage stellt, ob der verwendete Begriff überhaupt das leisten kann, was ihm nicht zu leisten vorgeworfen wird: die Erfassung antisemitischer Aussagen und antisemitisch motivierter Taten. Bergmann sieht dieses Problem zwar, wenn er weiter ausführt:

»Die Definition selbst ist nicht das Problem, sondern vielmehr die Frage, was man ihr alles zuordnet.« So habe es »immer wieder Meinungsverschiedenheiten gegeben über die Frage: Wo wird Israelkritik antisemitisch? Diese Frage ist unklar und politisch umkämpft.«

Bergmann beruft sich an dieser Stelle nicht auf die internationale Wissenschaft, sondern auf die Politik und gibt damit zu erkennen, dass diese Einfluss auf wissenschaftliche Begrifflichkeiten zu nehmen imstande ist. Der Interviewer ist bemüht, ihn auf den Pfad der wissenschaftlichen Tugend zurückzuleiten und fragt, welche Kriterien es für die Unterscheidung von berechtigter Kritik an israelischer Politik und Antisemitismus gebe. Bergmann:

»Wenn man Juden in europäischen Städten wegen der israelischen Politik angreift, dann findet eine Kollektivierung statt. Man macht sozusagen alle Juden für das Vorgehen des israelischen Staates haftbar. Das ist für uns ein klares Merkmal von Antisemitismus.«

Bergmann versucht seine Argumentation durch ein Beispiel zu retten und lässt außer Acht, dass entsprechende Äußerungen (und Taten?) in bestimmten Kontexten stattfinden können, durch die diesen unterschiedliche Bedeutungen zugewiesen werden können. Denkbar ist ja auch, dass ein Jude angegriffen wird, weil er Rechtsextremist ist und die israelische Politik auf dem Hintergrund dieser Weltanschauung verteidigt. In diesem Fall findet möglicherweise ein krimineller Übergriff, jedoch keine Kollektivierung statt. So eindeutig lassen sich Zuordnungen zum Antisemitismus offensichtlich nicht vornehmen – wenn nicht die jeweiligen Kontexte mit berücksichtigt werden. Das Bemühen um Vereindeutigung von etwas, das absolut mit solch komplexen Phänomenen nicht vereindeutigt oder gar verobjektiviert werden kann, zeigt sich auch anhand weiterer Beispiele, die Bergmann – wohlgemerkt in einem Zeitungsinterview – als Belege heranzieht. Er führt aus, dass sich zur Kritik an israelischer Politik »Weltverschwörungstheorien « gesellen, bekannt aus antisemitischer Propaganda, oder es werde das »goldene Kalb« beschworen, um das Scharon und Rumsfeld tanzen. So etwas kann antisemitisch grundiert sein und auch so verstanden werden; das muss aber nicht der Fall sein. Wenn etwa gesagt wird, heutige israelische Politik werde von Juden in aller Welt gutgeheißen, dann kann dies als »weltverschwörerisch « gemeint sein und auch so verstanden werden. Eine solche Aussage kann sich aber auch auf demoskopische Umfragen bei Juden beziehen, also auf »unbestreitbare Tatsachen«, zumal wenn sich diese Aussage nur auf einen Teil der Juden bezieht. Solches Bemühen um Eindeutigkeit bleibt einem Denken verhaftet, das eine 1:1–Relation zwischen Sprache/Diskurs und Wirklichkeit unterstellt. Damit wird aber den Wörtern/Begriffen etwas aufgebürdet, was sie überhaupt nicht zu leisten imstande sind: »Wahrheiten« zu enthalten, die objektiv und überall (und vielleicht auch noch jederzeit) gültig seien.

In der offiziellen Entgegnung des Zentrums für Antisemitismusforschung Berlin: (Newsletter 26 vom 20. Dezember 2003) heißt es auch:

»In der Frage der Definition von Antisemitismus, die Teil eines öffentlichen Meinungskampfes ist, wird es immer Zweifelsfälle bei ihrer Anwendung auf Einzelfälle geben. Wenn das EUMC den Autoren eine inkonsistente Verwendung des Begriffs unterstellt, so gilt es festzuhalten, dass das EUMC selbst seinen ›National Focal Points‹ für ihre Datensammlung keine Definition vorgegeben hatte, so dass jedes Land seiner eigenen Definition bei der Datensammlung gefolgt ist. Auch hier haben die Autoren die schlechte Vorarbeit des EUMC, das ja zuvor noch nie eine Studie zum Antisemitismus betreut hat, so gut wie möglich auszugleichen gesucht.«

In der Auseinandersetzung um die Antisemitismus-Definitionen ist die Unterscheidung zwischen berechtigter Kritik an Israel und Antisemitismus immer wieder zentral angesprochen worden. Die Problematisierung der Berliner: es gebe keinen Standard für die Registrierung und es sei oft schwer zwischen gegen Israel gerichteten Meinungsäußerungen und Antisemitismus zu unterscheiden, weist denn auch den Vorwurf der Schwammigkeit der Analyse zurück. Zu leicht macht es sich aber ein Autor der linken Zeitung Junge Welt, ein Herr Pirker, wenn er schreibt:

»Die Bewertung israelkritischer Meinungen als ›antisemitisch‹ ist skandalös – obwohl längst ein zentraler Bestandteil der offiziellen Meinungsproduktion. […] und noch nie ist der Antisemitismus-Vorwurf an Gegner der israelischen Unterdrückungspolitik so massiv erhoben worden, wie das gegenwärtig der Fall ist.« (Junge Welt vom 6. Dezember 2003)

Zu leicht, deshalb, weil Kontexte vorstellbar sind, in denen Kritik an Israels Politik durchaus antisemitische Auswirkungen haben kann und auch antisemitisch gemeint sein kann. Das könnte etwa dann der Fall sein, wenn kritikables Verhalten israelischer Politiker als typisch jüdisch bezeichnet würde, was ja durchaus vorkommt. Die Junge Welt hätte somit – wenn sie diese Diffamierungsstrategie belegen will – Ross und Reiter nennen müssen. Andernfalls kann dies nur als Anspielung von denjenigen verstanden werden, die sich angesprochen fühlen.

Es zeigt sich insgesamt, die Auseinandersetzung um Begriffe und Interpretationen verlässt schnell die Bühne eines fairen Wettbewerbs und es fliegen die Fetzen unsachlicher Argumentation, teilweise seitens des EUMC selbst, teilweise aber auch in eigenständiger Verantwortung der Medien. Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Auseinandersetzung zwar vorzugeben versucht, wissenschaftlich zu argumentieren, doch sie vermischt sich ständig mit politischen Absichten der Kontrahenten. Das gilt insbesondere für das EUMC. Der Kampf um Begriffe ist hier nur ein Instrument. Es geht nicht wirklich um eine inhaltliche Klärung.

Der zweite Report, von der EUMC selbst erarbeitet, ist sehr viel umfangreicher und differenzierter als der erste. Das liegt in erster Linie an der besseren Vorarbeit des EUMC, das z.B. den 15 National Focal Points Guidelines (Richtlinien) für die Kategorisierung von Daten, getrennt für die Jahre 2002 und 2003, vorgegeben hatte, eine zwingende Voraussetzung dafür, die Vergleichbarkeit der nationalen Datensammlungen zu gewährleisten. Daneben war zur Unterstützung eine Arbeitsgruppe des EUMC eingerichtet worden, und auch der Mitarbeiterstab des EUMC in Wien war an der Erarbeitung des Berichts intensiv beteiligt. Bereits dies verweist darauf, dass die Erarbeitungsbedingungen für die Reports höchst unterschiedlich waren. Ohne Zweifel hat auch der zweite Report vom ersten und auch von der damit provozierten Auseinandersetzung profitiert, zumindest was seine Quantitäten und – in geringerem Maße auch – deren Vergleichbarkeiten betrifft. Auch wurde dem zweiten Report als theoretische Fundierung eine eigene »adequate working definition« des Antisemitismusbegriffs vorangeschickt, die als eine Art »Aussichtsturm« (vantage point) für zukünftige Datensammlungsprozeduren fungieren soll. So wurde durchweg der Versuch gemacht, die Fehler, die in Verbindung mit der Veröffentlichung des ersten Reports beiden Seiten von außen und gegenseitig angekreidet worden waren, zumindest abzumildern.

Doch auch diese relativ elaborierten Vorgaben für die Sammeltätigkeit der National Focal Points (NFPs) helfen nicht, ein klares Bild über die Verbreitung des Antisemitismus in Europa zu zeichnen. Sie führen nicht nur zufällig zu verzerrten Ergebnissen, sondern zwangsläufig. Die NFPs sind damit völlig überfordert, wenn man allein den Aufwand für solche Sammelei bedenkt. Hinzu kommt, dass die zu sammelnden Daten national wie international und auch je nach Sammelstelle nach völlig unterschiedlichen Kriterien und politisch ideologisch unterschiedlichen Einstellungen erfasst werden. Was die jeweiligen NFPs ihrer Sammelei begrifflich zugrundegelegt haben, bleibt zudem ziemlich im Dunklen. Wenn schon in den Wissenschaften umstritten ist, was unter Antisemitismus und seinen Erscheinungsformen zu verstehen sei, kann man sich vorstellen, wie heterogen die Wahrnehmungen im Alltag aussehen. Der Anspruch, objektive, verlässliche und vergleichbare Ergebnisse einzufahren, kann auf diesem Wege nicht eingelöst werden.

Dies bestätigt auch ein Blick in die Länderberichte. Der Bericht über Deutschland stellt, wie zu erwarten, für 2002 ein wild-buntes Florilegium unterschiedlicher Statistiken (des Bundesamtes für Verfassungsschutz), von einzelnen Vorfällen und Ereignissen (Walser- Skandal, Möllemann-Karsli- Friedman-Disput) und diversen Veranstaltungen dar. Das findet seine Fortsetzung im Bericht für das Jahr 2003. Hier wird nur ein antisemitischer Vorfall angeführt, der geplante Anschlag von Neonazis auf das Münchener jüdische Gemeindezentrum ((Gegenüber 38 Straftaten, überwiegend Körperverletzungen, die der Verfassungsschutz berichtet, vgl. Hamburger Abendblatt vom 14. Mai 2004 und Verfassungsschutzbericht 2003, vorgestellt von Innenminister Otto Schily in Berlinam 13. Mai 2004.)), Statistiken fehlen, weil sie noch nicht vorgelegen hätten, usw. usw.

Als Beleg für Antisemitismus in den Medien werden nur drei (von mehreren hundert) rechtsextremen Zeitungen angeführt (ohne Beispiele). Auf »subtilere Formen des Antisemitismus «, z.B. in hegemonialen Medien, wird überhaupt nicht eingegangen; die Zeitungen dienen lediglich als Faktenlieferanten. Einige Forschungsprojekte werden vorgestellt. Einige Meinungsumfragen, die Auseinandersetzung um die Rede des CDU-Bundestags-Abgeordneten Martin Hohmann, der darüber schwadronierte, dass, wenn man die Deutschen als >Tätervolk< bezeichne, könne man ebenso gegenüber den Juden tun.
In einer Zusammenfassung heißt es ohne qualitative Gewichtungen für die deutsche Situation trotzdem: »It seems that antisemitism increased considerably.« (75) Daneben wendet sich der Report der Frage zu, wann anti-israelische und antizionistische Aussagen antisemitisch seien, und diese wird damit beantwortet, dass dies der Fall sei, wenn die zuvor genannten Kategorien auf entsprechende Aussagen zuträfen. Freilich werden dabei einige Probleme sichtbar, die der Report zumindest andiskutiert. Was ist zu tun, wenn Juden als Israelis angesprochen und/oder kritisiert und ausgegrenzt werden? Da gebe es dann Zweifelsfälle, die aber trotzdem in den Bericht aufgenommen werden sollten. So heißt es etwa:

»it is a very difficult – and in most cases an impossible – task to look into peoples‘ heads and grasp their thinking and their ›real‹ intentions behind launching hostile activities against Jews.« (14)

Der eigentlich zu ziehende Schluss, dass man der Lösung des Problems letztlich auch im zweiten Report nicht näher gekommen sei, wird jedoch nicht gezogen. Report II ist über die Ergebnisse des Berliner Reports nicht hinausgekommen, sieht man einmal von der größeren Anhäufung von Materialien ab.

Selbstverständlich sind bei solchen Analysen Sprecherpositionen und Rezeptionsvoraussetzungen zu beachten sowie – gar nicht erwähnt – unterschiedliche historische Länderdiskurse, die das aktuelle Wissen über Juden jeweils erheblich mit herstellen. Schließlich brechen historische Diskurse nicht einfach ab, sondern prägen auch aktuelle Diskurse und sind für deren konkrete Ausgestaltung von eminenter Bedeutung.

Wie es insgesamt aussieht, wird das EUMC auch in den nächsten Jahren auf dem eingeschlagenen, nicht wirklich verbesserten Pfad weiter voranschreiten.