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„ …. dass der Holocaust geschehen konnte.“

Eine Buchvorstellung von Friedhelm van der Sand. Erschienen in DISS-Journal 13 (2004)

Dieses Buch geht der Frage nach, welche diskursiven, also ideologischen und konzeptuellen Vorläufe dafür (mit)-verantwortlich zu machen sind, daß der Holocaust geschehen konnte und Antisemitismus und Ausgrenzung auch heute noch auf der Tagesordnung stehen. Dieser Versuch ist umso begrüßenswerter, als die entsprechende Forschung immer noch keine Antwort darauf geben konnte, welche historisch-diskursiven Grundlagen, die möglicherweise immer noch intakt sind, in den Völkermord an den Juden mündeten.

Das Verfahren exemplarischer Analyse ist dabei aus forschungspragmatischen Gründen unvermeidbar; die Auswahl der untersuchten Texte ist jedoch in hohem Maße überzeugend, da sie sich auf diskursive Ereignisse konzentriert, die für die weiteren diskursiven Verläufe von entscheidender Bedeutung sind. Der analysierte Diskurs verdeutlicht, daß das Tier-Konstrukt im Ausgrenzungsdiskurs bis in die Gegenwart weiter existiert, wodurch diese Untersuchung zugleich ihre aktuelle politische Relevanz beweist.

Nach Begründung des Themas und Darstellung des theoretischen Hintergrundes und einem Überblick über das angewandte diskursanalytische Verfahren widmet sich die Arbeit in einem ersten Teil der „Ermittlung des Ausgrenzungskonstrukts“. Dessen dualistische Struktur wird in einem Ritual der Ausgrenzung situiert. Das Konstrukt fungiert als Zuschreibung, die ein Sprecher vor Publikum gegen eine Zielgruppe richtet. Zwischen der (leeren) Begründung für die Zuschreibung und dem eigentlichen Argument der Herabsetzung ist zu unterscheiden. Da das betreffende Argument in kultureller Breite verstanden wird, wird der De-Codierung das Alltagsvokabular der Herabsetzung als Textcorpus zu Grunde gelegt.

Die gewonnene Systematik führt zur Identifikation des Tier-Konstrukts als dem Code der Zuschreibung und zur Konstituierung fester Merkmale. Sie sind an eine binäre Gut/Böse-Struktur gekoppelt und können sicher angeben, ob das Tier-Konstrukt als Instrument der Herabsetzung in Texten Verwendung findet. Die Gut/Böse-Struktur bildet die Brücke zum Moraldiskurs, aber auch zum Aspekt des Moralerwerbs. Ergänzend werden reziproke Strukturen der Zuschreibung erörtert sowie Abgrenzungen vorgenommen, insbesondere mit Bezug auf sogenannte Freundschaftliche Beleidigungen, die ebenfalls auf das Tier-Konstrukt zurückgreifen, aber keine unmittelbare Herabsetzung zum Ziel haben. Diesen Abgrenzungen folgt eine wichtige Ausweitung, da das von Jürgen Link entwickelte Analysekonzept der Kollektivsymbolik in einigen relevanten Aspekten mit dem Analysekonzept des Tier-Konstrukts verknüpft werden kann. So kann das Instrumentarium der Analyse erweitert werden.

Zum Abschluss des ersten Teils dieses Bandes wird über die Auswertung ausgewählter Diskursfragmente eine Typologie der Begründungen erstellt, die für die Zuschreibung des Tier-Konstrukts vorgebracht werden. Insgesamt können acht Begründungen identifiziert werden, die vom Konstrukt selbst zu unterscheiden sind und mit denen nun recht genau angegeben werden kann, welche Begründungen in Texten überwiegen oder ineinander verflochten sind.

Im zweiten Teil der Studie („Das >Tier<-Konstrukt als philosphisches Instrument“) kann das Analysekonzept des Tier-Konstrukts genutzt werden, um typische diskursive Kontexte im Diskursstrang des Moraldiskurses zu ermitteln. Da die topische Struktur des Konstrukts auf eine lange historische Stabilität deutet, wird zunächst die philosophische Tradition, die zugleich als Theorievorlage der wissenschaftlichen diente, befragt, inwiefern in ihr das Tier-Konstrukt konstituierend wirkte. Als ein maßgeblicher Anknüpfungspunkt kann die aristotelische Seelenlehre dienen, in der das Tier-Konstrukt vollständig ausgebildet als Ideologem erscheint. Über die arabische Rezeption, später über Thomas von Aquin wird es im Mittelalter in eine stereotype Argumentation im abendländischen Moraldiskurs überführt und mit der christlichen Dogmatik verknüpft.

Als historisch-diskursives Ereignis von großer Aussagekraft über die kulturelle Geltung, die diese stereotype Argumentation gewann, wird die Las Casas-Sepûlveda-Kontroverse des Jahres 1550 untersucht. In ihr richtet sich das Tier-Konstrukt und die daraus abgeleitete stereotype Argumentation – im Rahmen einer staatspolitischen Beratung und unter Bezug auf Aristoteles – in rassistischer Absicht gegen die Indianer. Sie hat später ihre Geltung erweitert und geht in die Literatur für bürgerliche Schichten ein, wie an Jonathan Swifts Moralsatire Gulliver’s Travels illustriert werden kann.

In einem weiteren Schritt („Der >naturalistische Fehlschluß<“) wendet sich Paul der philosophischen Theoriebildung zu. In ihr ist das Tier-Konstrukt als naturalistisches Beweismittel konstitutiv geworden. Dabei soll jeweils das Sollen des Guten über ein Sein des Guten empirisch unter Beweis gestellt werden. G. E.Moore identifizierte das Stereotyp im Jahre 1903 als naturalistic fallacy. In Abrissen wird gezeigt, dass die naturalistische Argumentation selbst für Kant und Marx leitend ist, dass sich abe auch neuere Verlautbarungen der Katholischen Kirche auf diese Tradition stützen.

Abschließend wird die jüdische, nicht-aristotelische Tradition des Moraldiskurses erörtert. Der Autor geht dabei von der These aus, dass die Gegenläufigkeit des Judentums zur aristotelischen Tradition zum Anlass wurde, es aus dem hegemonialen abendländischen Moraldiskurs auszuschließen. Anhand neuerer kirchenamtlicher Zeugnisse wird gezeigt, dass damit die Herabsetzung der jüdischen Ethik einhergeht. Die Profilierung des christlich- dogmatischen Motivs für die antisemitische Zuschreibung führt schließlich auch zur Frage des nazistischen Antisemitismus, der nach Gunnar Heinsohn die Vernichtung der jüdischen Ethik im Christentum zum Ziel hatte. Abschließend können Kriterien für die antisemitisch begründete Zuschreibung des Tier-Konstrukts in Texten und Äußerungen gewonnen werden.

Im dritten Teil der Arbeit („Das >Tier<-Konstrukt als wissenschaftliches Argument“) befasst sich Paul mit stereotypen Argumentationen, zu denen der Rückgriff auf das Tier-Konstrukt in der Wissenschaft geführt hat. Die Verknüpfung des naturalistischen Argumentierens mit einem biologistischen Begriff vom Tier mündet seit Mitte des 19. Jahrhunderts in einer auch heute bestimmenden, anthropologischen Stereotypik. Als Beispiele dienen eine gentechnologische, eine bevölkerungspolitische und eine ethnologische Argumentation. Darüber hinaus wird die betreffende Stereotypik anhand ausgewählter Beispiele in der Textsorte der bioethischen Fallstudien herausgearbeitet, in denen stereotype Werturteile präjudiziert werden. Das Beispiel einer wissenschaftspädagogischen Erzählung zeigt daneben die Verknüpfung einer anthropologischen Stereotypik mit dem Stilmittel der Kollektivsymbolik.

Ein weiterer Schwerpunkt dieses Kapitels untersucht, welche stereotypen Argumentationen entstehen, wenn das Tier-Konstrukt als wissenschaftliche Folie für den menschlichen Umgang mit Tieren und Pflanzen dient. Im Bereich der Thematik des Tiers als Tier sollen beispielhaft zwei Argumentationen stehen, wobei die erste Tierversuche rechtfertigt, während die zweite zu den Kategorien Mensch und Raubtier Stellung nimmt. Die betreffende Stereotypik im Bereich der Thematik der Pflanze als Tier bildet sich dagegen in wissenschaftlichen Argumentationen heraus, die zwischen einheimischen und fremden Pflanzen, bzw. zwischen Pflanze und Unkraut unterscheiden.

Danach (im Kapitel „Das >Tier<-Konstrukt als gesellschaftspolitisches Argument) richtet sich der Blick auf Applikationen des Tier-Konstrukts in der aktuellen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung. Sie steht im Zeichen zumeist kurzer Stellungnahmen, die zum Instrument der plakativen Herabsetzung greifen. Eine Einführung stellt typische Beispiele der politischen Instrumentalisierung des Konstrukts vor.
Danach widmet sich der Autor in zwei Schwerpunkten der systematischen Funktion des Tier-Konstrukts im gesellschaftspolitischen Diskurs. So erscheint das Konstrukt insbesondere in den visuellen Medien als Baustein einer umfassenden Routine, die als Gewaltästhetik zu charakterisieren ist. Das Analysekonzept des Tier-Konstrukts erlaubt es, eine Präzisierung hinsichtlich der Frage vorzunehmen, ob ein Zusammenhang zwischen medialen Angeboten und gesellschaftlicher Gewalt besteht. Hier eröffnet sich die Aufgabe, das diskursanalytische Verfahren auf visuelle Medienangebote zu richten.

Im Mittelpunkt des zweiten Schwerpunkts steht die Argumentationsform der sogenannten Nazi-Analogie. In ihr fungiert der Rekurs auf die Verbrechen des NS-Regimes in normalisierender Absicht als Container für das Tier-Konstrukt und hat daher jede aufklärende Funktion verloren. Die Stereotypik der Analogie wird anhand von thematischen Segmenten untersucht, wobei die nationalistische und die innen- und tagespolitische Applikation die Trivialisierung der NS-Vergangenheit besonders weit vorantreibt.

Jobst Paul
Das [Tier]-Konstrukt und die Geburt des Rassismus
Zur kulturellen Gegenwart eines vernichtenden Arguments
2004 Münster: Unrast
ISBN 3-89771-731-4
395 Seiten, 24 €