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Sozialstaat – Ja bitte, nein danke!

Rechte Gedanken zum Abbau des Sozialstaats. Von Helmut Kellershohn. Erschienen in DISS-Journal 12 (2004)

Die so genannte Neue Rechte (NR) hat ein Problem: die wichtigsten Prozesse in diesem Lande laufen weitgehend ohne sie ab. Sie muss sich mit der undankbaren Rolle desjenigen begnügen, der die Vorgänge interpretiert und je nach Sichtweise kritisiert oder absegnet. Das gilt speziell in Hinblick auf die derzeitige „Reform“ des Sozialstaates – nicht gerade ein Lieblingsthema der NR. In der Ausgabe vom 26. September 2003 der „Jungen Freiheit“ (JF) erhalten Gastautor Eberhard Straub (den man im eigentlichen Sinne nicht als der NR zugehörig betrachten kann) und die JF-Redakteurin Angelika Willig Gelegenheit, ihre Positionen zum Sozialstaatsproblem zu umreißen. Die Debatte hat exemplarischen Charakter.

„Sozialstaat retten“

Der Historiker Straub (Jg. 1940) war bis 1986 Feuilletonredakteur der FAZ und bis 1997 Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Er gehörte zu den „Zitelmännern“, die in den 90er Jahren der Nation einen Schnellkurs in Sachen „Selbstbewusstsein“ zu verpassen suchten. Seine Hauptsorge gilt denn auch der Nation und ihrer Legitimationsgrundlage, der Freiheit und Gleichheit der Staatsbürger. Mit Tocqueville warnt er sowohl vor den „lähmenden Wirkungen eines demokratischen Wohlfahrtsstaates ohne die korrigierende Freiheit“ als auch vor dem Wirken der „neue[n] Aristokratie […] des Geldes“. Deren Freiheit sei „keiner sittlichen Idee verpflichtet, nur Ausdruck des immer beweglichen und nach Vermehrung drängenden Kapitals“. Freiheit und Gleichheit stünden in einem Spannungsverhältnis zueinander, und es bedürfe einer Instanz, die beides miteinander vermittle und ausbalanciere. Tocqueville habe daher die Aufnahme der Idee der sozialen Gerechtigkeit in die Staatszielbestimmung befürwortet, da „der freie Markt und die freie Konkurrenz […] aus sich heraus keine gerechten Verhältnisse schaffen“ könnten. „Die Freiheit des Wirtschaftsliberalismus“, so Straub, entfalte sich „wohltätig“ [!] nur unter der Voraussetzung, „dass sie auf übergeordnete Ziele und Aufgaben verpflichtet“ wird.

Diese Vision eines nationalen Sozialstaates, der „mit seiner Vernunft [!] rein ökonomischen, eigennützigen Interessen“ als Freiheit und Menschenwürde schützende Ordnungsmacht entgegentritt, mag hoffnungslos idealistisch klingen; sie greift auf traditionell wertkonservative und konservativ-etatistische Vorstellungen vom „Staat als sittlicher Idee“ zurück. Gleichwohl verweist Straub auf einen wichtigen Punkt, den er denjenigen politischen Kräften, die am Projekt des Nationalstaats gegen die Entwicklung eines europäischen Bundesstaates festhalten wollen, ins Stammbuch schreibt: die Wirkmächtigkeit der nationalen Idee sei aller historischen Erfahrung nach daran gebunden, dass die Strukturen der Klassengesellschaft durch Egalisierungsprozesse in politischer und sozialer Hinsicht gemildert und soziale Mobilität ermöglicht werden könnten. Mit Blick auf die CSU hält er daher die ehemals propagierte Parole „Freiheit oder Sozialismus“ für kontraproduktiv.

„Sozialstaat abbauen“

Den neoliberalen Gegenpart zu Straub übernimmt die mit einer Arbeit über Jaspers und Heidegger promovierte Philosophin Angelika Willig (Jg. 1963). Am Neoliberalismus interessiert die JF-Redakteurin freilich weniger die ökonomische Argumentation gegen angeblich marktfremde Eingriffe von Seiten des Sozialstaates oder Gewerkschaften, auch wenn sie wie selbstverständlich das Klagelied über die hohen Lohn- und Lohnnebenkosten sowie die hohe Regulierungsdichte in Deutschland („halbsozialistisches System der Umverteilung“) anstimmt. Ihr Hauptaugenmerk richtet sie vielmehr auf die mentale und politische Verfasstheit der Nation. Von der „neue[n] deutsche[n] Faulheit“ ist die Rede, und Frechheit, Dummheit, Respektlosigkeit, Dreistigkeit, Undiszipliniertheit, Oberflächlichkeit seien quer durch alle Volksschichten, „vom Ministerialdirigenten bis hinunter zum Sonderschüler“, die ganz normalen deutschen Tugenden. Von wegen „anständiges Volk“! Da hilft nur noch die Solidarität der Leistungswilligen und Leistungsstarken. Diese Leistungselite aber habe ein Problem: Sie sei unfähig, „ihre sozial privilegierte Stellung moralisch zu rechtfertigen“! Hier will Willig aushelfen. Ihre Forderung nach „radikale[r] Streichung“ sozialstaatlicher Zuwendungen verknüpft sie mit einem radikalen Angriff auf das bundesrepublikanische Demokratieverständnis.

Nicht Tocqueville ist ihr Gewährsmann, sondern der unerwähnt bleibende Ludwig von Mises, der einer der ideologischen Erzväter der radikalliberalen Zeitschrift eigentümlich frei um Andre F. Lichtschlag ist und neuerdings auch in der JF wiederentdeckt wird. Man versteht sich in diesem Kreis als „libertär“ und möchte mit allen Marktradikalen, Anarchisten [!] und Kapitalisten dem Staat den Kampf ansagen. Eigentümlicherweise hat man keine Berührungsängste, sich mit Preußenfans, jungkonservativen Etatisten usw. an einen Tisch zu setzen. Diesbezüglich empfiehlt sich ein Blick in die Darstellung des Liberalismus von v. Mises: „Das Programm des Liberalismus hätte […], in ein einziges Wort zusammengefasst, zu lauten: Eigentum, das heißt: Sondereigentum an den Produktionsmitteln.[….] Alle anderen Forderungen des Liberalismus ergeben sich aus dieser Grundforderung.“ (Ludwig v. Mises: Liberalismus, Jena 1927, S. 17) In politischer Hinsicht bedeutet das: Ist die kapitalistische Eigentumsordnung gefährdet, hat der Nachtwächterstaat ausgedient, schränkt der „halbsozialistische“ Interventionsstaat die Bewegungsfreiheit des kapitalistischen „Sondereigentums“ zu stark ein, darf es für Ludwig von Mises eben auch der Faschismus sein, um für Abhilfe zu sorgen. Denn „der Faszismus und alle ähnlichen Diktaturbestrebungen …[haben] für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet […]. Das Verdienst, das sich der Faszismus damit erworben hat, wird in der Geschichte ewig fortleben.“ (ebd., S. 45)

Bei Willig riecht es zwar nicht nach Mussolini, aber ähnlich: Die Wende zum Besseren könne in Deutschland nicht von Konservativen und Rechtspopulisten, überhaupt nicht von der Politik, sondern „nur von der Wirtschaft“ selbst ausgehen. Warum? – Mit schuld an der Misere des Sozialstaats sei in Deutschland das Demokratieverständnis. Man nehme es hier viel zu „genau“, jede Stimme zähle gleich, „egal wie viel ihr Besitzer“ leiste. Und statt wie in den USA Demokratie als einen formalen, unpolitischen Entscheidungsmechanismus zu verstehen, vertrete man hier die Idee, „dass die Gleichheit des Stimmzettels sich in einer sozialen Gerechtigkeit realisieren müsse“.
Demgegenüber sei die Wirtschaft grundsätzlich „antidemokratisch“ strukturiert, es gebe keine Mehrheitsentscheidungen, keine „Mitleidsideologie“, sondern eine „natürliche Rangordnung“ von oben nach unten. Und mit Blick auf völkische Idealisten unter den JF-Lesern empfiehlt sie den „autoritären Staat […], der die Gaben streng“ verteile. Alle Macht dem „freien Unternehmertum“, Wirtschaftsfachleute in ein Notstandskabinett – so Willigs Devise.

Sinn der Debatte

Die Debatte zwischen Straub und Willig ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Erstens zeigt sich an ihr eine gewisse Abstraktheit und ‘Ideologielastigkeit’ der Argumentation. Es geht mehr um Sinnstiftung und Orientierung, um das Setzen von ‘Duftmarken’ als um die konkrete Analyse einer konkreten Situation. Natürlich fühlt und weiß man sich im Willen zum Einsatz für die Nation verbunden, aber über die Definition der aktuellen Belange der Nation, ja selbst über das Grundverständnis von Nation, gehen die Positionen doch ziemlich auseinander. Während Straub an einem staatlich vermittelten Gesellschaftsvertrag bzw. an einem konstitutionellen Verständnis von Nation festhält, transformiert Willig die Bürger-Nation in eine Art Führer-Gefolgschaftsverhältnis.

Zweitens: Die Funktion der Debatte besteht offensichtlich darin, die Bandbreite strategischer Optionen im Übergangsfeld zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus nicht zu leugnen, sondern im Gegenteil sie aller erst deutlich zu konturieren. Das hat durchaus exemplarischen Charakter und verweist auf das Selbstverständnis der Neuen Rechten (bzw. der JF). Es geht ihr darum, über einen Prozess der Vermittlung die Differenzen zwischen den diversen Strömungen im besagten Übergangsfeld abzuflachen und an einem ideologischen Block zu arbeiten, der in der Lage ist, das politische Koordinatensystem der Republik nach rechts zu verschieben.