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Was der Mythos verschweigt

Von Edzard Obendiek, erschienen in DISS-Journal 6 (2000)

Jemand hat gesagt, daß der Mythos Geschichte in Natur verwandelt. Dabei fällt immer einiges unter den Tisch. Mir ist zum Beispiel aufgefallen, daß die Heroen, die wie Odysseus durch die Welt ziehen, nie Probleme mit den Sprachen haben, wenn sie in fremde Länder kommen. Eine Lappalie? Nun, wenn ich mich in einem fremden Land nicht verständigen kann, fühle ich mich existentiell bedroht, schwer beeinträchtigt. Ich möchte heimreisen. Ist das etwa keine der Großen Erzählungen würdige Krise? Und auch die anderen zweifellos auftretenden Grundprobleme des alltäglichen Zurechtkommens werden von den Mythopoeten souverän ignoriert. Was haben die dreinschlagenden Kraftmeier gegessen? Konnten sie gut schlafen? Sind sie nie gestolpert? Haben sie nie etwas vergessen? Kannten sie keine depressiven Phasen, keine Langeweile, keine Unpäßlichkeiten? Ist ihnen nie etwas mißlungen? (Wieso finden die Rächer der Enterbten im Film im Kampf mit dem Bösen immer einen Parkplatz!) Mit diesen Figuren sollen wir uns identifizieren?

„Der Mythos ist in meinen Augen keineswegs gleichbedeutend mit einer falschen Geschichte, eben weil er sich durch seine Funktion definiert, nicht durch seine historische Genauigkeit“ (Kolakowski, FR, 3.4.2000, S.12). Und welche Funktion ist das? Zunächst einmal fassen zweifellos die Mythen, wie jede Große Erzählung, menschliche Erfahrung in einer Form, die allgemein verständlich ist und leicht tradiert werden kann. Sie sind darin allen Psychologiebüchern überlegen. Sie werden die Versuche, ihre komprimierten Botschaften endgültig auszulegen (Freud u.a.), überdauern.

Mythen transportieren also bestimmte ausgewählte Grundwahrheiten. Den Kampf der Geschlechter, das Ringen mit dem Absoluten, das Spiel menschlicher Abhängigkeiten, die Auseinandersetzung mit der Schuld und dem Schicksal. Soweit, so gut. Aber hinter ihnen stecken auch Absichten. Und hier wird es kritisch. Sie dienen einem Zweck: Die Helden bewirken die Selbstvergewisserung einer Nation oder eines Kulturkreises, deren Ursprung garantiert, deren Recht auf ein bestimmtes Territorium bewiesen und deren Eigenart gerechtfertigt werden soll. Die Griechen grenzen sich erzählend von den Barbaren ab (Medea); die Juden versichern sich erzählend ihrer Erwählung (Abraham); die Deutschen leiten ihre Identität von Heroen der Frühzeit ab (Siegfried, Arminius). Und mythischen Charakter bekommen auch neuzeitliche Erzählungen: Robinson Crusoe begründet Englands zivilisatorische Mission, und Goethe macht die Deutschen zum Volk der Dichter und Denker.

Wir haben gelernt, die großen Gestalten und Taten zu hinterfragen, das mythologische Erzählgut historisch zu relativieren, den Mißbrauch des Erbes zu registrieren und uns der Borniertheiten bewußt zu werden, die mit der unkritischen Tradierung dieser Stoffe einhergingen. Aber Vorsicht, der Mythos versteckt sich auch in alltäglichen Texten. Was kennzeichnet sie? „Car c’est l’un des traits constants de toute mythologie petite-bourgeoise que cette impuissance à imaginer l’autre“ (Roland Barthes) („Eines der ständigen Merkmale der kleinbürgerlichen Mythologie ist diese Unfähigkeit, sich das Andere vorzustellen.“)

Welches Andere wird ausgeblendet? Die menschheitlichen Mythen bringen Dinge auf den Punkt; Detailprobleme würden ablenken; wir müssen nicht informiert werden über die Schweißausbrüche und Wadenkrämpfe des Sisyphos. Aber schon die Ursprungsmythen von Kulturen täten besser daran, die behauptete Einheit ihrer zumeist bunten, „kreolischen“ Anfänge (Edouard Glissant) zu überprüfen. Und erst recht geben die kleineren Zweckmythen, diese Selbstbestätigungen von Gruppen, Klassen und Cliquen, nicht mehr die Wirklichkeit wieder, nicht die der Anderen und nicht einmal die eigene. Die ist nämlich widersprüchlich und eigensinnig. Kritische Rezeption mythologischer Texte, berühmter und trivialer, alter und neuer, findet nur dann statt, wenn der Leser sie prüft. Kommt verdrängte Wirklichkeit zu Wort? Und vor allem: Sind mehrere Stimmen zu hören?